Ist mir schnuppe!

Die Ampel ist zerbrochen. Was täglich in Aussicht gestellt wurde, ist nun mit einem großen HUCH wirklich passiert. Leider kehrt damit natürlich keine Ruhe ein, nein, es wird noch viel aufgeregter geredet, gezetert, sogar ein Instrumentalstück ist inzwischen im Topf. Das Ganze frustriert mich maßlos.


Es ist mir schnuppe!


Ob der Bundeskanzler sein Statement am Mittwochabend schon vorab vorbereitet hatte, oder nicht. Eigentlich hoffe ich, dass er sich vorbereitet hat, wenn er vor die Presse tritt.
Es ist mir schnuppe, ob Robert Habeck Fehler eingesteht, ohne genau zu sagen, welche das eigentlich sein sollen, dafür aber sympathisch in der Küche von Freunden (Botschaft: Er hat Freunde!!) sitzt.
Es ist mit schnuppe, wer jetzt alles Bundeskanzler, Finanzminister oder sonstwas werden will.
Es ist mir schnuppe, wie ein Marco Buschmann seine „Emotionen“ in einem Song zum Ausdruck bringt, inklusive fürchterlicher Anmoderation. (Das passiert, wenn man an kultureller Bildung spart.)
Es ist mir schnuppe, schnuppe, schnuppe, was Markus Söder über all das denkt, er wird Bayern hoffentlich nie wieder verlassen.
Und erst recht ist mir dieser Streit um den Wahltermin, der ganz offensichtlich rein strategisch motiviert ist schnuppe.

Ich höre nur ichichich.

Diese ganze Ego-Show der letzten Jahre, sie geht einfach weiter, ich höre ichichich und denke daran, wie man Kindern erklärt, was eine richtige Entschuldigung ist, und was nicht. Offenbar machen wir das oft nicht gut genug, denn die Herren in der Spitzenpolitik haben es bis heute nicht verstanden:

„Auch ich habe Fehler gemacht, das gebe ich zu, und deshalb sollt ihr jetzt mich und nur mich an folgendem Termin wählen.“

Geht’s noch? Kein Wunder, dass die AfD dieser Tage verhältnismäßig still bleibt, das Ganze ist wie ein einziges, riesiges Wahlgeschenk. Und das ist mir nicht schnuppe.


Was mir nicht schnuppe ist:


Gibt es jemanden, der die notwendigen Gesetze verabschiedet, damit uns der Laden nach der Vertrauensfrage und der Wahl nicht um die Ohren fliegt? Sprich: Vorkehrungen trifft, damit wir „wetterfest“ gegen eine noch größere AfD-Fraktion sind? Den Haushalt vielleicht doch noch festzurren können? (Ja, ich weiß, aber schön wär’s.) Vielleicht auch noch zwei, drei andere Kleinigkeiten regelt, die einfach richtig sind, zum Beispiel die Kindergelderhöhung?


Nach der Trennung muss irgendwer die Scherben aufkehren, und zwar mit einem Besen, nicht mit einer Fernsehkamera.
Bittedanke.

Ein paar Bitten…

Die Rechten sind die Gewinner_innen (ich gendere aus Prinzip) der jüngsten Wahlen. Sie werden aller Voraussicht nach auch bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen abräumen. Wahrscheinlich haben wir inzwischen auch jede Strategie gegen diese Entwicklung hinlänglich zerredet, ich habe dafür keine Geduld mehr. Ich habe nur einige Bitten:


1. Nehmt das Problem endlich ernst.
Menschen sterben an rechter Gewalt, schon seit langem. Wir dürfen das nicht unterstützen, weder in Bezug auf rassistische, sexistische, homophobe, transphobe oder ableistische Gewalt. Und auch nicht mit Blick auf die mittelbare Gewalt einer klimatisch ruinierten Welt. All das betrifft nicht nur die Politik der AfD, sondern auch (weite) Teile der CDU/CSU, FDP, SPD… Jede Partei zuckt an den ihr passenden Stellen die Achseln.


2. Hört auf, euch über AfD-Wähler_innen lustig zu machen.
Ja, ich fühle mich auch moralisch überlegen. Das bringt mir aber überhaupt nichts, wenn ich mit dieser Überzeugung allein bleibe. Wir müssen! dringend! AfD-Wähler_innen überzeugen. Auch wenn es sehr verlockend ist, sich mit diesen überhaupt nicht mehr zu befassen, sie sind nunmal da und wir sollten in Kontakt bleiben – in der Familie, Nachbarschaft, wo es sich eben anbietet.
Tipp am Rande: Es bringt meist nicht viel, sich über Meinungen zu streiten. Es kann aber zu guten Gesprächen führen, wenn man in die Biographien einsteigt und dann ganz ehrlich spiegelt, wie sich bestimmte Erfahrungen und Reaktionen für einen selbst anfühlen. Also ruhig ehrlich sagen, was man schlimm findet, aber nicht den Menschen an sich herabwürdigen. Ein schmaler Grad, ich weiß.


3. Unlust überwinden: Klar muss jetzt nicht jede_r Nazis therapieren, Menschen mit einem geschlossenen rechten Weltbild erreicht man sowieso nicht. Aber sorry, wir sind auch echt nicht in der Position, uns nicht anstrengen zu müssen.

4. Kein Ossi-Bashing. Diskussion gern. Aber mit zuhören. Alles andere macht die Lage nur noch schlimmer.


5. Lachen wo es Lachen braucht: Politiker_innen und Nazis sind vielfach Medienprofis, stramm rechts und nur an sich selbst interessiert. Lacht und schimpft über sie, alles andere bringt eh nichts.

6. Beschwert euch über Algorithmen! Je krasser, drastischer, aggressiver eine Äußerung in den sozialen Netzwerken, desto mehr Reichweite hat sie in den sozialen Netzwerken, die Medien ziehen nach. Das weltweite Erstarken der Rechten hat mit Sicherheit auch damit zu tun. Da brauchen wir dringend mehr Regulierung und eine Debatte, wie das mit der Pressefreiheit und dem Recht auf freie Meinungsäußerung in Einklang zu bringen ist.


7. Hört endlich auf zu glauben, dass dieses Problem auf der Sachebene zu lösen ist. Es ging nie um Argumente, es geht um Gefühle, Haltungen. Eine Politik der Höflichkeit und Freundlichkeit auf allen Ebenen kann hier die einzige Antwort sein. Auf Werte wie den der der Gastfreundschaft könnte Friedrich Merz ja auch mal wieder stolz sein.

8. Egal, in welcher Öffentlichkeit ihr steht: Vertretet eure Meinung. Sagt nicht, was ihr glaubt, was die Menschen vor euch hören wollen. Integrität ist das einzige, was in dieser Lage echte Orientierung bietet.

Und 9. Nehmt das Problem endlich ernst.
Danke.

100 Seiten

Ich habe sie geknackt, die 100 Seiten! Was für Seiten?
Seit Jahren habe ich den Traum, ein Buch über das Amt für Wunscherfüllung und Vielleicht-Management zu schreiben. Erst über meine Erfahrungen in meinem gleichnamigen Projekt 2018, dann doch lieber in einer fiktiven Form, um Grenzen zu überschreiten, die ich als juristische Person und sowieso eben auch einfach als „ich“ nicht überschreiten will. Warum ich für 100 Seiten nun aber fast sechs Jahre gebraucht habe, und was das Ganze mit meinem Bild von mir als arbeitendem Menschen zu tun hat – da komme ich ins Nachdenken.


Ich habe immer gern gearbeitet und war extrem intrinsisch motiviert – Kompromisse waren nur schwer auszuhalten, was sich auch im Einkommen gezeigt hat – freiberuflich in den Bereichen Kultur und Pädagogik, da verdient man gerade genug, um eine Steuererklärung abgeben zu müssen. Und ich hatte das Bild: Ich arbeite für immer, ich höre einfach nicht auf. Das war okay für mich.

Nicht mehr arbeiten können.


Dass ich nun gesundheitlich so früh an einen Punkt gekommen bin, an dem ich allen Ernstes Rentnerin (auf Zeit) geworden bin, darauf wäre ich nicht gekommen, und es war sehr schwer für mich, das zu akzeptieren. Ich habe andere Wege probiert: Krampfhaft gegen eine Krankheit angekämpft, die zu diesem Zeitpunkt einfach stärker war. Mir einen Brotjob in Teilzeit gesucht. Und massiv um den Familienfrieden gerungen, denn ein Einkommensverlust betrifft den ganzen Haushalt und belastet das soziale Gefüge, und da sollte man viel offener drüber sprechen.

Und in dieser ganzen Zeit habe ich immer wieder etwas geschrieben – hier ein paar Sätze. Dort einen Gedanken. Eine Figur entstand, die mir ähnlich ist und doch ganz anders, die alles richtig machen will und sich mal sehr originell und mal sehr dämlich verhält: Lovis, Anfang 40 und nicht immer so richtig ehrlich mit sich selbst. Ein Arbeitstitel entstand: Lovis will das Gute. Und Lovis Geschichte fing genau da an, wo meine künstlerische Arbeit aufgehört hatte: In Grünau, und zwar als Amtsleiterin des Amts für Wunscherfüllung und Vielleicht-Managements.

Lovis will das Gute


Dann kam der nächste Zusammenbruch und ich musste eine ganze Menge aufräumen. Und mich damit anfreunden, dass es nicht nur darum geht, mich nach einer Phase zu reparieren und dann weiter zu machen, sondern endlich zu akzeptieren, dass ich bestimmte Wege wahrscheinlich nicht werde gehen können. Ich hätte gerne professionell Theater gemacht, aber dazu gehört eben nicht nur kreatives Talent, sondern auch das Vermögen, sehr mobil zu sein, sehr viel zu arbeiten, Familie, Freunde, Therapien nicht immer in der Nähe zu haben, auf lange Ruhephasen zu verzichten… Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen: Die meisten beruflichen Positionen, in denen man wirklich etwas gestalten kann, sind mit einem Zeitaufwand, einer Mobilät etc. verbunden, der für mich aktuell schwierig wirkt. Umgekehrt sind Aufgaben ohne Gestaltungsaspekt für mich aber leider uninteressant. Ich langweile mich, und das hat noch nie gut geendet.
Also doch wieder kreativ, doch wieder selbstbestimmt, doch wieder prekär. Seit einem Jahr arbeite ich (neben der Rente) an kleineren Aufträgen als Autorin. Ich liebe es. Auch kulturpädagogisch war mal wieder was los. Endlich wieder im Bienenland! Und eben: Der Traum vom Buch. Es ist nicht leicht, denn auch wenn es mir seit geraumer Zeit deutlich besser geht, ich bekomme die Rente nicht ohne Grund. Am schwierigsten ist es mit der Konzentration, nicht selten schlafe ich beim Schreiben ein. Ich hoffe, dass das nicht am Inhalt liegt, sondern an den Medikamenten – ich bin fast sicher. Inzwischen schreibe ich dennoch jeden Tag, und es macht mir große Freude.

Ich habe Fragen!



Und weil ich an die Zukunft denke und sowieso auch trotz allem eine ehrgeizige Person bin, nehme ich die 100. Seite zum Anlass, euch jetzt endlich meine vielen Fragen zu stellen:
Ich würde gern mit einem_einer Anwält_in sprechen, mit jemandem der_die Ahnung von Fußamputationen hat, und wie findet man überhaupt einen Verlag und eine_ Agent_in?
Gibt es irgendwelche Netzwerke von Autor_innen in Leipzig und kenne ich da wen?

Ihr seht, ich will vom Sofa aus raus in die Welt und ich würde mich freuen, wenn wir uns dort treffen.
Bis dahin schließe ich völlig zusammenhangslos mit den letzten beiden Sätzen, die ich geschrieben habe, nicht repäsentativ und voller Freude. Denn die Ideen waren nie weg und haben endlich wieder Platz. Bis bald!

„Siehste, sagt Pittiplatsch.
Ich trinke das Glas aus. Arschloch.“

Betreff: Brandmauer

Die Enthüllungen von Correctiv sind ungeheuerlich: Menschen aus der AfD, CDU, Neonaziszene kommen zusammen und besprechen Konzepte zur Deportation unzähliger Menschen. Und die CDU sagt: NIX. Ich habe an Friedrich Merz geschrieben – macht gerne strgc!

An:

CDU-Bundesgeschäftsstelle

Klingelhöferstraße 8
10785 Berlin

E-Mail: friedrich.merz@cdu.de
Telefon: + 49 30 22070-0

Sehr geehrter Herr Merz,

wie Recherchen von CORRECTIV belegen, haben zwei Mitglieder der Werteunion an einem Treffen teilgenommen, bei welchem erörtert wurde, wie man künftig Menschen mit und ohne deutsche Staatsbürgerschaft „abschieben“ könne. Zu den anwesenden Redner_innen und Zuhörer_innen gehörten namhafte Mitglieder der AfD, aber auch bekannte Neonazis, die Zusammenkunft diente der Sammlung von Spenden für den oben beschriebenen Zweck. Die Mitglieder Ihrer Partei waren: Simone Baum (Werteunion NRW, Vorstand) und Michaela Schneider ( Werteunion NRW, stellvertretender Vorstand ).

Der ganze Plan verstößt eindeutig gegen das Grundgesetz.

Außerdem ist er absolut menschenverachtend.

Ich habe folgende Fragen:
1. Haben diese beiden CDU-Mitglieder in der Folge dieser Veranstaltung Anzeige erstattet oder zumindest parteiintern auf die Vorgänge hingewiesen?

Wenn nicht:
2. Haben sie gespendet?
3. Welche Konsequenzen wird ihr Verhalten parteiintern haben?

Mit der Bitte um eine öffentliche Antwort-
Solveig Hoffmann

2023 gelesen

2023 war ein ganz gutes Lesejahr für mich – wahrscheinlich, weil ich gesundheitstechnisch endlich wieder aufnahmefertiger war. Und es gab so tolle Bücher! Hier also meine Leseliste (ohne Bilderbücher). Was habt ihr gelesen?

1. Kim de l’horizon: Blutbuch. Man hört ja hie und da, der eine/die andere interessiere sich nicht so für non binary-Themen… Aber dieses Buch ist so viel mehr. Wie kann ich sprechen, wenn ich bei grundsätzlichen Kategorien nicht mitmache? Wie erzählen Bäume, Menschen, Sex-Dates, Strickzeug, Hexen? Es geht nicht darum, Rechte einzufordern, es geht darum zu sein. Letztlich für uns alle. Absolute Leseempfehlung.

2. Christina Clemm: Akteneinsicht. Bevor du mit jmd über sexuelle Gewalt diskutierst, ist dieses Buch eine gute Lektüre. Die Frage, warum „das Mädel nicht sofort was gesagt hat“ stellt sich dann nie wieder. Am besten gleich in der Schule lesen.

3. Christian Baron: Ein Mann seiner Klasse. Die authentischen Schilderungen der Armut und Gewalt in der Kindheit des Autors haben mich sehr beschäftigt. Es ist außergewöhnlich, wieviel Wärme er für den/seinen prügelnden Vater aufbringt. Wie er die sozialpolitische Komponente seiner Erfahrungen im Auge behält. Schwer erträglich, wie er etwa vom Jugendamt behandelt wurde. Mit Sicherheit auch ein streitbares Buch, auch wenn ich das gar nicht richtig fassen kann.

Manchmal schwer erträglich.

4. Juli Zeh: Über Menschen. Tolle Dialoge. Völlig übertriebene Erzählungen vom Stadtleben. Schade, dass es der Autorin nicht gelingt, fair zu beidem zu sein.

5. Lisa Aisato: Alle Farben des Lebens. Okay, das ist ein Bildband. Und zwar ein wunderschöner. Schlimme und gute Erfahrungen verdichten sich in 1000 Farben. Bestimmt auch mal kitschig, aber mich macht es froh <3

6. Jo Nesbø: Sohn. Von Zeit zu Zeit habe ich Krimilust. Jo Nesbø ist dann eine absolut gute Wahl.

7. Bernhard Heckler: Das Liebesleben der Pinguine. Ich erinnere mich an erstaunlich wenig. Verschiedene Handlungsstränge wurden verflochten, alles fein, aber nicht so mein Ding, ist nichts persönliches.

8. Sebastian Ringel: Glücksorte in Leipzig. Badezimmerlektüre, enthielt tatsächlich einige Orte, von denen ich noch nie gehört hatte.

9. Karsten Dusse: Achtsam morden. Lustige Grundidee, aber wenn mir ein Mann stundenlang erzählt, wie erfüllend und beglückend es ist, 48 Stunden allein für ein Kleinkind zuständig zu sein, dann steige ich aus.

Beglückte 48 Stunden allein mit einem Kleinkind. Genau.

10. Tuula Karjalainen: Tove Jansson. Die Biographie. Das tollste am Buch sind die vielen farbigen Abbildungen. So eine interessante Künstlerin! Die Autorin wiederholt sich zwar öfter, aber es ist trotzdem ein sehr interessantes Buch.

11. Marco Missiroli: Treue. Im Treppenhaus gefunden, mich gut unterhalten gefühlt.

12. Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter. Frauenfeindlichkeit. In einer bürgerlichen Familie in den 80ern. Kennt man ja? Nein, dieses Gefühl, wenn diese völlig absurden Erniedrigungen der Mutter von der Tochter beobachtet werden, das muss man erstmal aushalten. Bzw. ich. Trotzdem eine absolute Empfehlung!

13. Ernst Jandl: Ottos Mops hopst. Den kleinen Gedichtband habe ich schon seit meiner Kindheit, jetzt feiere ich ihn mit meinem Sohn.

14. Siri Hustvedt: Die Leiden eines Amerikaners. So schöne Figuren, soviel Balance letztendlich. Eine gute Autorin, die nur sparsam Wünsche erfüllt.

Die absurdesten Beziehungen der Welt, so lustig.

15. Liv Strömquists Astrologie. Wollte ich eigentlich verschenken, aber dann habe ich reingelesen, mich kaputt gelacht und es behalten. Ein Panoptikum der absurdesten Beziehungen der Welt, und da gibt es so einige. Gönnt euch!

16. Astrid Lindgren: Kati in Amerika. Kati in Italien. Kati in Paris. „Jungmädchenbücher“ von Astrid Lindgren. Ich finde es einfach hochinteressant, wie Kinder- und Jugendliteratur besehen und bewertet wird. Vielleicht schreibe ich darüber nochmal mehr. Hier schafft die Autorin es jedenfalls, in jedem Satz gleichzeitig progressiv und konservativ zu sein.

17. Jonathan Safran Foer: Wir sind das Klima. Wie immer ein ehrliches, persönliches, mit großer Geste argumentierendes Buch. Und natürlich sind wir das Klima. Nur leider wir alle. Ich wäre sehr gern allein mit Jonathan Safran Foer das Klima. Oder so. Es ist zum heulen.

Für Neue im Psycho-Business.

18. Sandra Strauß, Scharwel: Nicht gesellschaftsfähig. Alltag mit psychischen Belastungen. Ein dicker Wälzer mit einem guten Ansatz. Manchmal etwas gleichförmig, gerade in den vielen Erfahrungsberichten, dazwischen finden sich aber echte Perlen. Auf jeden Fall ein sehr gutes Buch, um es bei Leuten herumliegen zu lassen, die neu im „Psycho-Business“ sind.

19. Moritz Hoffmann: Der Nahostkonflikt. (privat) Schon vor langer Zeit bat ich meinen Bruder, mir den Nahostkonflikt zu erklären – und bekam als Unikat einen Comic. Leider war es nun mal wieder Zeit, ihn aus dem Regal zu ziehen. Sich die Chronik anzuschauen, macht es nicht besser.

20. Magda Trott: Försters Pucki. Noch so ein Abfuck der Kinderliteratur. Jede Menge seelische Gewalt, aber im Wald, der ist okay. Heidewitzka.

21. Isabell Allende: Amandas Suche. Die Frau kann sich tolle Figuren ausdenken, aber in diesem Roman schwafelt sie – man könnte bestimmt ein Drittel streichen. Wer an sowas Freude hat, der möge beginnen, ich war froh, als ich fertig war.

22. David Lagercrantz: Verschwörung. Fortsetzung der bekannten Reihe von Stig Larsson. Ziemlich grob verfasst, hat mir nicht gefallen. Hatte aber auch Covid.

Krimis mit Hackerin aus der Zeit der CD-Rom.

23. Stig Larsson: Verblendung. Verdammnis. Vergebung. Nach langer Zeit nochmal gelesen… Die Reihe hat den technischen Fortschritt überraschend gut verkraftet.

24. Susanna Kubelka: Endlich über vierzig. Der reifen Frau gehört die Welt. Ein sehr lustiges Geschenk. Und ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass Feminismus nicht funktionieren kann, wenn man sich ständig be- und abwertet. Alte Frauen sollen einfach aufhören zu jammern. Junge Frauen sollten nicht zu lange stillen, um eine schöne Brust zu behalten. Und alle sollten einfach maßvoll essen und auf jeden Fall Sport machen. Die Männer sollen nix. Klar so weit.

25. Petra Hartlieb: Weihnachten in der wundervollen Buchhandlung. Noch so ein Treppenhausfund. Das Weihnachtsgeschäft ist sehr anstrengend. Das war’s.

26. Tove Jansson: Das Winterbuch. Gute Erzählungen, allerdings vom Verlag zusammengestellt, und das merkt man, das Buch ist nicht rund. Dennoch: Lest Tove Jansson!

Und jetzt noch Kinderbücher:

27. Otfried Preußler: Der Räuber Hotzenplotz 1&3, Der Wassermann. Mit meinem Sohn gelesen/gehört. Einfach ein toller Autor.

28. Michael Ende: Jim Knopf und die wilde Dreizehn. Siehe oben, auch wenn in Bezug auf die Hautfarbe von Jim kurz was besprochen werden musste… Aber mein Sohn winkt da bloß ab, er weiß das alles.

29. J. K. Rowling: Harry Potter und die Kammer des Schreckens. Siehe oben. Auch hier beschäftigt mich die Kritik, die neuerdings überall zu lesen ist. Ein wirklich interessantes Thema.

30. Marc-Uwe Kling: Der Tag, an dem Papa ein heikles Gespräch führen wollte/die Oma das Internet kaputt machte/der Opa den Wasserkocher auf den Herd gestellt hat/Tiffany das Wasser aus der Wanne geschaukelt hat. Alles so lustig, gehört zum Repertoire unserer Familienparty.

31. Andreas Steinhöfel: Dirk und ich. Auch so ein Buch, dass uns immer zum lachen bringt

32. Anke Kuhl: Mannomann. Gute Familiencomics, witzig, aber auch voll der Härten des Kindseins.

33. Flix: Spirou in Berlin. Sehr klug, sehr witzig, sehr Kenntnisse voraussetzend. Urteil meines Sohns: Das ist wohl eigentlich nichts für Kinder.

34. Frida Nilsson: Frohe Weihnachten, Zwiebelchen. Gar nicht so leicht, als sechsjähriger Probleme zu lösen, die die Erwachsenen selber nicht geklärt kriegen. Zwiebelchen macht dabei einige Fehler, und er ist so sympathisch dabei – es war richtig kuschelig, dieses Buch zusammen zu lesen.

35. Marc-Uwe Kling: Das Klugscheißerchen. Kleine Geschichte, runde Sache, sehr gut vorlesbar. Kann man machen.

Das waren meine Bücher 2023.

Und das waren sie, meine Bücher 2023. Einen Bilderbuchtipp für Kleine und Große schiebe ich hinterher: „Kunst aufräumen“ von Ursus Wehrli. Einfach eine gute Idee. Ich räume jetzt mein Bücherregal auf… Oder mache ich mich vielleicht endlich mal wieder an meinen eigenen Text?

Wie auch immer: Frohes Neues! Und lest schön…

Randnotizen: Der Weihnachtseinkauf

Ich hatte das nicht beabsichtigt. Ich wollte einfach nur den weihnachtlichen Familiengroßeinkauf hinter mich bringen. Aber die lediglich 90 min Aufenthalt im Reudnitz-Center reichen locker für eine neue Runde Randnotizen.

Es läuft gut! Kurz nach 9 Uhr parke ich im Parkhaus ein. Ein glänzend schwarzes Fahrzeug gleitet an mir vorbei. Der Fahrer liebt es offensichtlich, seinen Wagen zu dekorieren: Vorne prangt ein riesiger Totenkopf, an der Seite zeigt mir eine skelettierte Hand den Stinkefinger. Er biegt um die Kurve. Wie süß! Auf der Rückseite weisen drei Babysilhouetten auf seine Kinder hin. Bitte nehmt Rücksicht!

Apropos Kinder: Manche sind gar nicht in der Schule, sollte es da etwa wirklich Betreuungslücken geben? Während um mich herum die Mittfünfziger (die nicht gegendert werden wollen!) auf der Suche nach der guten Mayonnaise umherflitzen, schlurft mir ein etwa 11-jähriges Mädchen durch den Marmeladengang entgegen. Ihr Gesichtsausdruck ist …authentisch. Hinter mir donnert eine mütterliche Stimme: SO HIER IST DAS HANDY UND JETZT KOMM ENDLICH!!1! Ich bin nicht immer sicher, ob Familienfeste den beteiligten Familien überhaupt so gut tun.

Vor der Gurkenkiste steht ein bärtiger, breitschultriger Hühne und summt: palim, palim. Ich störe ihn nicht.

Eine Mittfünfzigerin steht vor der Kühltheke, sichtlich angestrengt. Wieviel Butter nochmal? Ihr Mann ruft freudvoll hilfsbereit: Nimm soviel, wie du brauchst! Diese Großzügigkeit wird lediglich mit einem sarkastischen „Danke“ beantwortet. Es mag dem Mann noch nicht in den Sinn gekommen sein, aber seine Frau hatte nie vorgehabt, den Napf mit der Kräuterbutter alleine auszulöffeln.

Menschen, die in der Mitte des Gangs von einem Fuß auf den anderen treten und alles blockieren, sollte man erschießen dürfen, und da ist mir das Alter jetzt auch wirklich egal.

In mitten des Wahnsinns ein wenig Ruhe: Die Babys schlafen selig und süß in ihren verschiedenen Behältnissen, während die Eltern ihren Einkauf erledigen. Irgendwann werden sie nach Hause gehen, die Taschen die Treppen hinauf tragen, sich einen Kaffee aufsetzen, in einen Sessel sinken… und ihr topfittes, ausgeruhtes Baby bestaunen, dass die Bude zerlegt. Been there, done that.

Der Kassenbereich ist ein wenig voll. „Meine“ Kassiererin trägt Nikolausmütze und erschöpfte Miene. Während sie die Artikel scannt, bespricht sie mit ihrer Kollegin, welche Produkte aktuell nicht lieferbar sind, die Musik dudelt, die Kund_innen dudeln, der Scanner piept, es ist ein Traum. Beim Abschied setze ich an und sage: Frohe… n Feierabend. Sie guckt mich an und lacht los.

In diesem Sinne: Frohe Weihnachten!

Randnotizen VIII

Je schneller der Alltag vergeht, desto langsamer schreibe ich mit. Dafür habe ich gelesen, und zwar den Literaturkanon der Altenburger Straße. Und gepinkelt wurde auch, aber woanders. Viel Freude!

Schwimmbad, Dusche. Mein Badeanzug wurde als figurformend verkauft und in der Tat: Mein Körper wirkt figurformend auf das schwarze Kleidungsstück. Gegenüber stehen zwei Frauen unter der Dusche, nackt, gut gelaunt, formlos, wenn man so will. Eine der beiden, vielleicht Anfang 60, dreht sich entspannt im warmen Wasser. Ihr fehlt eine Brust. Wie sie da steht ist sie einfach absolut cool. Kurz überlege ich, was wäre, wenn ich ihr das jetzt einfach so sagte. Das geht auf gar keinen Fall, würde alles kaputt machen. Und aus genau diesem Grund ist jede Werbe-Kampagne mit Body-Positivity-„Botschaft“ zum Scheitern verurteilt. Weil das Normale kein Urteil und keine Anerkennung braucht.

Charlotte, ey.

„Charlotte? Die ist völlig geisteskrank. Ey, die ist als erstes in eine Burschenschaft eingetreten, obwohl sie ja von hier kommt und schon einen Freundeskreis hatte. Und dann hat die sich gleich bei der Ersti-Party halt einen Typen angelacht, aber das war nach zwei Monaten auch wieder vorbei, weil die einfach geisteskrank ist. Die haben dann gestritten und sie meinte dann so, dass sie ihm die Wohnung anzündet. Und dann ist sie mit Lea zusammengezogen und da gab’s dann natürlich auch wieder Stress. Und jetzt hat sie auch schon seit 2 Jahren einen Freund, fährt aber trotzdem immer nach Hamburg und datet da irgendwelche Sugardaddys. Und -“ (Leider musste ich dann los, aber ich will seither unbedingt wissen, wie es mit Charlotte weitergeht…)

Unsicher tapsen sie da umher, in der Gemüseabteilung, diskutieren leise, wo gibt es denn noch Basilikumgewürz, der Topf ist so teuer, es wird gesucht, also machen wir das jetzt oder nicht?, ich kann es nicht mehr mit anhören, „Vernünftigen Basilikum bekommt ihr nur im Topf“, informiere ich sie. „Der hält dann auch einige Monate.“ „Ja, man nehme sich immer vor, den mal umzutopfen, aber dann…“, „Nein, nein, das schaffen die schon“, doziere ich, „es sei denn, den Pflanzen wurden die Wurzeln gekürzt, da könnt ihr dann machen was ihr wollt….“ Konsequent duze ich die beiden Jungs (jungen Männer), konsequent breite ich mein Wissen aus, konsequent wird der Blumentopf eingepackt. Ich verabschiede mich, die beiden bedanken sich artig. Heute habe ich gewomansplained.

An eurer Stelle würde ich den Basilikum im Topf nehmen!

Nicht alle mögen es, wenn ihr Haus getagged wird. Eine Wohnungsbaugenossenschaft hat deshalb vorauseilend ihre Fassade mit einem großen Graffito veredeln lassen. Und das ist höchst interessant: In einem Teilbereich sieht man ein ganzes Bücherregal inklusive Titel. Der eine oder andere wurde offensichtlich zu später Stunde mit dem Edding ergänzt, und so zeigt sich ein Literaturkanon von Tantra bis zum Zauberberg. Ich finde, man könnte die Liste noch ein wenig verjüngen, habt ihr Vorschläge?

Olaf Scholz wählt AfD

Olaf Scholz tut so, als können man die Herausforderungen der Migration mittels Abschiebungen negieren. Damit erweist er der AfD einen großen Dienst. Es ist beschämend.

Es ist mal wieder Zeit. Eigentlich wimmere ich in puncto Flüchtlingspolitik nur noch leise im Familienkreis vor mich hin und habe keine Lust mehr, mich an jedem Aufreger zu beteiligen. Ich ertrage Friedrich Merz, ich ertrage Philipp Amthor, ich ertrage Markus Lanz, (Precht gucke ich mir gar nicht erst an), ich halte Nancy Faeser aus und eigentlich auch alle anderen. Das geht insofern ganz gut, als ich ja nicht betroffen bin, hurra. Und wenn dann so ein Flugblatt kommt, und so eine lässige Nicht-Erklärung wie bei Aiwanger, dann überkommt mich einfach das Gefühl eines kompletten politischen Kontrollverlusts. Die AfD drängt mehr und mehr in Ämter und ich habe Angst. Wahrscheinlich nicht halb so viel, wie andere Menschen, die sichtbarer auf der Feindesliste stehen.

Und nun also Olaf Scholz und seine Hammeridee, „die Probleme“ dadurch zu lösen, „endlich im großen Stil abzuschieben.“ Das ist ja erstmal eine hochinteressante Idee: Wenn (!) die Wähler_innen mit der Aufnahme von Geflüchteten Ängste oder Ärger empfinden, dann ist die Vorstellung, diese Menschen einfach loszuwerden natürlich reizvoll. Abgesehen von allen moralischen Bedenken lautet die Erzählung dann ungefähr so: Wir haben Leute aufgenommen, dann wurde es uns zuviel, und da haben wir dann nach bestimmten Kriterien Leute ausgewählt und die wieder weggeschickt und die sind jetzt auch weg.

Was für ein Blödsinn!

Wir leben in einer globalisierten Welt. Apfelsinen und Billigschuhe bedeuten eben auch, dass die Welt zusammenrückt. Wir haben von diesem Zustand massiv profitiert und tun es noch. Eine riesige Ungerechtigkeit. Menschen fliehen vor Kriegen und Zuständen, die auch wir durch unsere kolonialen Aktivitäten erzeugt haben. Und es werden noch viel mehr Menschen fliehen, wenn der Klimawandel Fahrt aufnimmt. Wir haben mit unseren Emissionen und unserem (Fleisch)-konsum eine Welt gestaltet, in der wir der Fluchtpunkt sind. Je mehr Menschen kommen, desto absurder wird der Abschiebeplan. Dann müssen wir uns eben fragen: Wollen wir Gewalt, Bewaffnung, im Ernstfall Bürgerkrieg? Oder fragen wir uns vielleicht doch besser: Wie gestalten wir diese Situation zusammen?

Bei unseren Politiker_innen sehe ich leider wenig Bereitschaft, diese Zusammenhänge mit den Wähler_innen zu besprechen. Man macht sich damit nicht beliebt, also greift man lieber zur Merkel-Taktik: Die erzählt bis heute, dass nicht absehbar war, dass 2015 so viele Menschen kommen würden. Bullshit, Sachverständige haben das wieder und wieder gesagt. Aber die Vorstellung, dass es plötzlich über dem Balkan Muslime geregnet haben solle, die hält sich irgendwie hartnäckig.

Da wird viel gelogen. Das nützt der AfD.

Es ist, als ob man den Kindern hartnäckig vom Weihnachtsmann erzählt, obwohl draußen längst andere Leute stehen, die ganz unterschiedlich sind. Aber ES MUSS DER WEIHNACHTSMANN SEIN!!1! Da wird viel gelogen, und auch Olaf Scholz lügt, wenn er so tut, als läge die Lösung für alles was schwierig ist, in mehr Abschiebungen. Er lügt, weil er nicht zugeben will, dass er die Migration nur begrenzt einschränken kann. Und das ist ein direkter Service für die AfD: Politiker_innen die die Migration begrenzen/abstellen wollen, greifen ihre Themen auf. Und, was noch viel schlimmer ist: Politiker_innen, die unhaltbare Versprechungen machen oder wissentlich lügen, bestätigen die Wählerschaft direkt in ihrem Demokratieverständnis. Das ist katastrophal. Der einzige Weg mit der AfD umzugehen, ist authentisch mit den Leuten zu reden. Nicht auf Podien, das wird nur ausgenutzt, aber im direkten Kontakt. Klar und ehrlich für das eintreten, was man selbst auch vertreten kann. Und für sinkende Flüchtlingszahlen würde ich nicht meine Hand ins Feuer legen.

Wem traut ihr das zu? Ich werde schon wieder so müde…

Moritz Neumeier in Leipzig

Es war eine ziemlich konfuse Sache. Eines dieser Wochenenden, an denen zuviel los ist, während an anderen gähnende Leere herrscht. Niemand in meinem Nah-Umfeld interessiert sich für Comedy und so wollte auch niemand mitkommen – und ich kümmerte mich schlicht um nichts. Was sehr ärgerlich gewesen wäre – aber Moritz Neumeier spricht ziemlich ehrlich über Elternschaft und Depressionen, und letztendlich wollte ich es dann doch einfach wissen: Wie er auf der Bühne ist. Ob er liefert. Ob es mich berührt.

Also flugs an der Tür eine der letzten Karten gekauft und den allerbesten Platz gesucht – und den sorgsam zusammengestellten musikalischen Unverschämtheiten von Livin on a prayer bis Abenteuerland zuhören. 700 Menschen im Felsenkeller, die alle entertained werden wollen – eigentlich eine sehr unangenehme Vorstellung für mich. Der Begriff Comedy klingt für mich – ganz althergebracht – ziemlich flach, während Kabarett wiederum so schulmeisterlich wirkt. Natürlich gibt es gerade in den USA sehr sehr gute Vertreter_innen von Stand Up, aber hier in Deutschland hatte ich das Thema eigentlich lange abgehakt, seit es vor 20 Jahren hieß „der Dieter Nuhr kommt auch vom Niederrhein und ist voll witzig“ – nun ja. Nicht alle altern in Würde.

Dann allerdings ging es los, dass reihenweise Comediens (hauptsächlich Männer) anfingen, über ihre Depressionen zu sprechen, was jetzt nicht unbedingt so positiv klingt, wie es soll. Ich habe das sehr genau verfolgt, denn wenn es etwas gibt, was ich mag, dann Humor mit einer gewissen Fallhöhe. Leider allerdings kamen die Depressionen häufig eher in einzelnen Sendungen oder gar Talkshows vor, die Comedy fand auf einer anderen Bühne statt. Das ist natürlich legitim, aber ist es nicht doch auch irgendwie – schade?

„Die große Moritz Neumeier ich bin noch auf der Suche, treten Sie näher, keine Ahnung, was dann passieren wird-Show“.

Da saß ich nun also am Samstag, dritte Reihe Mitte, ein Publikum, dass aus Fans bestand und ein Künstler, der sehr sympathisch, sehr fies, manchmal konfus aber immer auf den Punkt sprach. Der alles, jeden Mucks freudvoll be- und aburteilte, vor allem auch sich selbst. Und der tatsächlich einfach sehr wahr über Kinder/Elternschaft und über Depressionen sprach. Als Teil seines Programms. Nicht als „große Moritz Neumeier-Show“, sondern eher als „große Moritz Neumeier ich bin noch auf der Suche, treten Sie näher, keine Ahnung, was dann passieren wird-Show“. Das muss man erstmal hinkriegen. Ich weiß das, denn ich kenne diese Themen aus eigener Erfahrung sehr gut. Und ich brauche keine Künstler_innen, die über Abgründe sprechen, gleichzeitig aber immer die voll Perfektion bewahren. Damit kann ich nichts anfangen.

„Ich weiß es doch auch nicht“ – so hießt ein früheres Programm, „Unangenehm“, so heißt das aktuelle. Es ist witzig, es ist wahrscheinlich erstunken und erlogen, es ist möglicherweise so ehrlich, wie man vor einem ausverkauften Saal sein kann.

Ich hoffe, dass er damit viel (nicht zuviel) Erfolg hat. Geht hin!

Nichts über Rammstein

Seit einer ganzen Weile diskutiert das Internet nun schon über Rammstein, bzw. über die Vorwürfe gegen Till Lindemann und inzwischen auch Flake. Missbrauch, Vergewaltigung, K.O.-Tropfen, Gewalt, eine sexistische Casting-Praxis, Anzeigen und Anwaltschreiben. Natürlich gilt die Unschuldsvermutung, was auch gut ist, denn die allermeisten von uns waren noch nie backstage bei Rammstein und haben daher eigentlich nicht so viel zur Debatte beizutragen. Oder doch? Ich für meinen Teil bin wahnsinnig wütend. Und deshalb schreibe ich heute mal „Nichts über Rammstein“.

Ein Hinweis vorab: Ich habe dieses Mal weniger gegendert. Natürlich weiß ich, dass auch Männer und männlich gelesene Personen Opfer von sexualisierter Gewalt werden können. Ich wollte aber, dass auch potentielle cis*männlicher Täter den Text verstehen. Danke für euer Verständnis.

„Büchsenöffner.“ Was für mich bis vor kurzem noch ein Utensil eines Astrid-Lindgren-Picknicks war, wurde mir nun mit 41 Jahren von wohlmeinenden Freunden erklärt: Den Büchsenöffner nehmen Menschen (Jungs) auf dem Land mit zur Party. Er besteht aus einer Flasche Schnaps. Frauen abzufüllen um sie „ins Bett zu kriegen“ ist eine beliebte kulturelle Praxis.

Und überhaupt: „ins Bett kriegen“? Wie kriegt man die Frauen da nur hin? Mit Hunden? Absperrungen? Sollte man vielleicht einen Salzleckstein aufstellen?

Und was wird aus denen, bei denen das nicht klappt? „Reste ficken“ – so lange weitersaufen, bis alle anderen weg sind und der traurige Rest dann eben auch endlich gut genug ist. Ist das der Plan?

Vielleicht mit einem Salzleckstein?


Wir müssen nicht über den Fall Rammstein sprechen, um zu sehen, dass wir ein riesigens gesellschaftliches Problem namens rape culture haben. Andernfalls würden die Vorwürfe auch nicht so hohe Wellen schlagen. Und die Fans und Verteidiger_innen ziehen ja auch alle Standardregister: Victim Blaming ohne Ende, ein absurdes Vertrauen in die Aufklärungsfähigkeit der Behörden und einen ordentlichen Schuss Romantisierung der Musikbranche.

Denn soviel muss klar sein, selbst wenn ich nackt und zugedröhnt im Backstagebereich rumliegen würde, umgeben von Liebesbriefen an die halbe Band – ohne ausdrücklichen und direkten consent hat niemand das Recht das auszunutzen. Wenn ich nicht mehr in der Lage wäre mich zu äußern, dann wäre ich auch nicht mehr fähig diese Entscheidung zu treffen, und da ist es egal, ob man Till, Flake oder Nepomuk heißt und am vernünftigsten wäre es vielleicht sowieso eine_n Sanitäter_in zu rufen. Ein aufgezwungener Geschlechtsverkehr ist nie die Schuld des Opfers, es hat natürlich die Verantwortung für sich selbst, nicht aber für den potentiellen Täter, übrigens auch egal wie betrunken auch dieser wiederum ist. Und, kleine Nebenbemerkung: Verantwortung für sich selbst zu übernehmen ist der beste Weg kein Täter zu werden. Nur mal so als Tipp.

Nebenbemerkung: Verantwortung für sich selbst zu übernehmen ist der beste Weg kein Täter zu werden.


Dass die Behördern sexualisierte Gewalt in welcher Form auch immer zuverlässig aufklären und angemessen bestrafen würden – ich möchte jedes Mal eine Friedenstaube mit den neuesten Statistiken losschicken, wenn ich dieses Argument lese. Sie tun es nicht, sie können es nicht, es ist sowieso schon schwierig und die Verfahrensweisen helfen auch nicht dabei. Ich empfehle das Buch „Akteneinsicht“ von Christina Clemm.

Und dann natürlich der Mythos des ungezügelten Lebens der Rockstars… Ja, diese Mythen aus den Welten der Künste, die sind ganz schön nützlich, und zwar nicht nur in der Musikbranche. Auch im Theater und im Film und was weiß ich nicht wo noch alles stabilisieren sie ungerechte, frauenfeindliche, schlicht patriarchale Strukturen.

Rammstein sind in allererster Linie eins: Ein sehr großer Arbeitgeber. Sie stehen an der Spitze einer großen Pyramide von Abhängigkeitsverhältnissen. Solche Gebilde neigen dazu, dass niemand spricht, dass Dinge klein- oder schöngeredet werden. Wem nützt es schon, schwerwiegende Anschuldigungen zu äußern? Wer denkt, dass die Frauen davon profitieren, dem werde ich diese Überzeugung nicht nehmen können. Denn die Frage ist ja: Was müsste eine Frau tun, wie schlimm und wie persönlich muss eine Frau sich äußern, damit ihr keine niedere Absicht mehr unterstellt wird? Wieviel soll sie von sich Preis geben, damit ihr geglaubt wird? Und ab welchem Punkt ist es dann schon wieder hysterisch, unrealistisch usw? Frauen können an diesem Punkt nur verlieren. Weil sie Frauen sind.

Sie werden es überstehen.


Rammstein, da bin ich mir ziemlich sicher, werden die Sache überstehen. Sie haben alle Ressourcen und per se kein Problem damit, die „bösen Jungs“ zu sein und mit Ambivalenzen zu spielen. Das ging bei den letzten Konzerten in Berlin schon los.

Das Gute ist: Ich fühle mich persönlich nicht von denen bedroht.
Das Schlechte: Ich lebe in einer Welt voller Büchsenöffner. Das ist verdammt bedrohlich und gefährlich, nehmt es endlich zur Kenntnis. Danke.