Randnotizen VII

Endlich mal wieder Randnotizen! Mit Kindern, die immer lernen, Erwachsenen, die es nie lernen und Seehunden, die wahrscheinlich Hilfe brauchen, fragt selbst.

Auf dem Weg zu meinem Termin laufe ich außen am Friedenspark entlang. Zwischen den Büschen eine staubige Baustelle. Zwei Stunden später Rückweg durch den Park, die Bauarbeiter sind weg und hier steht… Eine öffentliche Toilette! Wenn das mal keine gute Idee ist! Hinter dem Häuschen biege ich ab auf die Straße. Es steht noch keine Stunde. Ein Mann uriniert gegen die Rückwand. Keine Pointe.

Weihnachtsfeier, angenehme Leute, ich lerne noch kennen. Man erzählt sich, was man so macht, einer berichtet, er arbeite als Feel Good Manager. Was das bedeute, möchte ich wissen, und er spricht von Team Building und guter Arbeitsatmosphäre. Dann geht er Getränke holen und ich beobachte einen uralten und geradezu peinlich sozialdemokratischen Impuls an mir: Ich will verdammt nochmal lieber einen Betriebsrat!

Weihnachtseinkäufe. Ich verlasse einen Laden und stolpere geradewegs in das lauteste und dreckigste Lachen, dass ich je gehört habe. Hier rührt ein Bösewicht in einem Kessel, hier wird ein teuflischer Plan geschmiedet, hier – Hier steht ein schmächtiger Obdachloser und beobachtet die Passanten. Beiläufig schlendert er weiter, genau hinter eine Frau – und ES lacht wieder, der Gehweg wackelt, die Frau macht einen Satz. Ich folge dem Mann, nachdenklich betrachtet er eine BurgerKing-Filiale. Dann tritt er ein, die Tür fällt zu, eine Sekunde vergeht – und ich sehe durch die Glasfassade, wie die gesamte Kundschaft zusammenzuckt. Es ist der Grinch!

Spiele, die man mit Nummernschildern spielen kann

Spiele, die man mit Nummernschildern spielen kann (powered by the Sohn): 1. E-Autos zählen, 2. Herkunftsländer zählen, 3. Bundesländer zählen und versuchen alle 16 an einem Tag zu sehen, 4. Buchstaben sagen, 5. Mit den Buchstaben einen Satz bilden, 6. Plaketten angucken, 7. Zahlen sagen, 8. Gesamtzahl (üben zu) sagen, 9. Vergleichen, welche Zahl am höchsten ist, 10. Die Zahlen addieren; 11. Gucken, ob man mehr Nullen oder Os findet (sehr gern kompetitiv), 12. Gucken, ob man mehr Sechsen oder Neunen findet (s.o.), rote, grüne, schwarze Nummernschilder suchen, 13. Das Nummernschild mit der niedrigsten Zahl/höchsten Zahl finden, – trefft mich, wie ich der Landesregierung vorschlage, den Lehrer_innenmangel mit Nummernsschildern auszugleichen.

Zum ersten Mal bin ich in der Stadtbibliothek ganz oben, noch hinter der Musikbibliothek, ich brauche etwas aus dem Magazin. Die Mitarbeiterin sucht, sucht wieder, plötzlich durchfährt ein gewaltiger Lärm den riesigen Raum, was kann das sein, es klingt wie… ja wie ein größerer Seehund, der im Lüftungsschacht eingeschlossen ist und um Hilfe ruft. Ich frage die Frau, ob hier ein größerer Seehund im Lüftungsschacht eingeschlossen ist und um Hilfe ruft. Sie schaut mich nachdenklich an und nickt. „Wir wissen auch nicht, woher das immer kommt…“ Wenn ihr in die Stadtbibliothek geht, nehmt ein paar Heringe mit.

Wann kommt die Impfpflicht?

Ich liege im Bett, Corona-frei erkältet, und scrolle durch die Berichterstattung zu Covid 19. Ich hatte ein bisschen den Anschluss verloren, dieses Virus bestimmt inzwischen schon so lange unseren Alltag, dass mich das Gefühl beschlichen hatte, es sei schon alles gesagt.


Im Prinzip stimmt das auch, nur: Wir fangen gerade einfach wieder von vorne an. Die Inzidenzen sind riesig, gerade hier in Sachsen, die Ansteckungsgefahr damit vor allem aber nicht nur für Ungeimpfte größer denn je, die Intensivstationen sind heillos überlastet. Und: Über jede Pups-Maßnahme, die diese Lage verbessern könnte, wird diskutiert, als solle flächendeckend Strychnin ins Trinkwasser eingespeist werden. Wir argumentieren ähnlich wie mein fünfjähriger Sohn im Angesicht der Zahnbürste, aber genauso dringend wie das Zähneputzen ist eben auch: die höhere Impfquote. Die Alternative (für Deutschland) lautet Durchseuchung, und das bedeutet faktisch, schwächere Menschen sterben zu lassen, damit wir uns nicht impfen lassen müssen. Kinder und Kranke. Ernsthaft?

Kinder und Kranke. Ernsthaft?

Das böse Wort in dieser Debatte lautet „Impfpflicht“, und natürlich ist das auch nicht schön: Der Staat greift in die körperliche Unversehrtheit der Bürger_innen ein. Absolut problematisch.
Allerdings tut der Staat das sowieso – auch wenn er keine Impfpflicht einführt. Etwa wenn Eltern durch die Schulpflicht gezwungen sind, ihre ungeimpften Kinder zur Schule zu schicken. Oder wenn ein_e Herzpatient_in stirbt, weil die Notaufnahme wegen Covid 19 überfüllt ist und ein weiter entferntes Krankenhaus angefahren werden muss. Oder auch ganz einfach, wenn wir alle, ob geimpft oder ungeimpft (die Impfung schützt nur vor schweren Verläufen) bei jedem verdammten Einkauf Angst vor der Ansteckung haben müssen.

Oder auch nicht, denn hat man von diesem Zustand längst die Nase voll und will einfach leben. Demo, Clubbing, Kölle Alaaf. Ich kann`s verstehen. Aber die Quittung kriegen wir dann auch wieder alle.


Jede potentielle Wähler_innenstimme von einem_r Querdenker_in scheint genauso viel wert zu sein, wie die von 10 Impfbefürworter_innen. Dabei wird man diese Menschen sowieso nicht erreichen. Ob Geflüchtete, Umweltschutz oder eben Covid-19, es gibt in Deutschland eine Szene, die sich auf die großen Themen draufsetzt und sie für sich nutzt. Und je mehr Raum man ihnen gibt, desto mehr Menschen verunsichern sie. Das ist hier passiert.

Ich will die Impfpflicht. Für alle.

Und deshalb bin ich da jetzt auch komplett undiplomatisch.
Ich will die Impfpflicht. Für alle.
Ich will, dass alle Bürger_innen ihren Impftermin unaufgefordert vom Gesundheitsamt bekommen, und wer den nicht einhält, muss entweder ein Attest des_der Amtsarzts_ärztin einreichen, oder bis zur Bewältigung des Infektionsgeschehens zu Hause bleiben.
Ich will, dass das kontrolliert wird.
Und ich will zusätzlich Vernunft im alltäglichen Zusammenleben: Keine Großveranstaltungen bei den aktuellen Inzidenzen.
Ist das nicht einfach gesunder Menschenverstand?
Oder bin ich da komplett verblendet?
Grüße vom Erkältungslager.

Von Pädagogik in Kultur und Sport

Mein Sohn interessiert sich für Fußball. Anlass für mich, über die integrative Kraft von Sport nachzudenken und ziemlich unzufrieden mit den Fußballvereinen zu werden.

Wieder und wieder wird die integrative Kraft des Sports beschworen. Als mein Sohn sich für Fußball interessiert, mache ich mir Gedanken und vergleiche Kultur- und Sportpädagogik in Bezug auf Integration. Spoiler: Der Sport schneidet nicht so toll ab.

Und dann war es passiert: Mein kleiner Sohn stand fasziniert am Rand des Fußballplatzes und sah den kickenden „großen“ Jungs zu. Vor meinem inneren Auge zog das nächste Hobby in unsere Familie ein, ein weiteres Hobby, mit dem ich nichts am Hut habe: Sportvereine. Als hätte seine Autoleidenschaft mir nicht gereicht. Nun also: Fußball.

Damit wir uns richtig verstehen: Gegen den Sport „Fußball“ habe ich nichts, im Gegenteil, ich habe selbst gespielt. Mit der inoffiziellen Mannschaft der Theaterwissenschaft SPVGG Nemesis bolzte ich jeden Sonntag durch den Park, und unser einziges Spiel gegen die Medizin verloren wir nur knapp (0:6). Das Ganze war eine wunderbare Erfahrung, ging es in dieser Mannschaft doch darum zu lachen und befreundet zu sein. Seitdem mache ich (wieder) gerne Sport. Nur eben ohne das Leistungsprinzip.

Und noch ein weiterer Punkt zum richtigen Verständnis: Ich habe auch überhaupt nichts dagegen, wenn talentierte Kinder und Jugendliche ihren Sport auf hohem Niveau betreiben und danach streben, besser zu werden – so sie das selber wollen. Ich möchte niemanden aufhalten. Aber dass es im Schulsport weniger um Leistungssport und mehr um Gesundheitsförderung gehen sollte, ist meines Erachtens eine Selbstverständlichkeit.

Es geht immer mehr um Leistung.

Da stand er nun also, mein Sohn, eine Horde Grundschüler kickte hingebungsvoll, ein Vater/Torwart gab den Trainer und viele schlaue Anweisungen. Später am Abend ließ ich meine Gedanken schweifen und googlete ein paar Leipziger Fußballclubs. Auf der Ebene der „Bambini“, also der Kindergartenkinder, war viel von Spiel und Spaß die Rede, die Leistung stand nicht im Vordergrund. Nach und nach sollte dann während der Grundschulzeit das Spielen gegen andere Vereine etabliert werden, mit anderen Worten Tuniere. Es geht also von Jahr zu Jahr mehr um Leistung. Wer Fußball spielt, möchte das Spiel gewinnen, das liegt in der Natur der Sache.

Gedanklich wanderte ich weiter zu zahllosen Gelegenheiten, bei denen die integrative Kraft des Sports und die Wichtigkeit der Sportförderung hervorgehoben wurden. Und dann eben wirklich zum Traumziel der Kinder und Jugendlichen, dem Spitzensport. Der Spitzenfußball ist reich, mehr als reich. Aber integriert er die Menschen? Ein kurzer Blick zurück auf die EM und die Haltung der UEFA zum Bekenntnis zu LGBTQI+ reicht, um Grenzen sichtbar zu machen. Und überhaupt, diese Haltung um jeden Preis unpolitisch zu sein, was ganz offensichtlich sowieso nicht funktioniert – führt die zur Integration von Menschen, oder steht ein Arbeiter in Katar nicht doch eher draußen? Und mit „draußen“ meine ich außerhalb eines Raums, in dem Menschenrechte und Menschenwürde von Bedeutung sind. Könnte die FIFA nicht einfach sagen, jawohl, wir halten uns raus aus der Tagespolitik, aber die UN-Menschenrechtskonvention, an die halten wir uns öffentlich? Würde halt viele nice Geschäfte stören.

Da war ich nun bei den großen politischen Unstimmigkeiten des Spitzensports angekommen, und dabei war ja noch nichts weiter passiert, nur ein paar kickende Jungs und ein faszinierter Sohn. Aber was würde geschehen, falls er wirklich in einen Sportverein gehen wollen würde? Ich würde ihn natürlich lassen. Und insgeheim würde ich seinen Verein, die dortige sportpädagogische Arbeit mit der kulturpädagogischen Arbeit vergleichen, die ich früher gemacht habe, die soviele Kolleg_innen immernoch machen. Gehen die Trainer_innen auf die Ideen der Kinder ein? Gibt es „richtig/falsch“, oder werden alle Gedanken der Kinder aufgegriffen? In welcher Weise wird bewertet? Und, ganz wichtig, wer wird integriert und wer nicht? Tatsächlich werden Mädchen bei den Vereinen immerhin theoretisch integriert. Inwiefern ausländische Kinder und Jugendliche im Sportverein landen dürfte davon abhängen, ob sie jemanden kennen, der ihnen den „Weg“ dorthin zeigt. Behinderte Kinder und Jugendliche? Damit müssen sich Sportvereine anscheinend nicht befassen.

Für mich war das normal.

Für mich war das aber normal: Lernbehinderung. Autismus. Rollstuhl. Ab auf die Bühne und eine Inszenierung machen, dabei das Kind in seinen Kompetenzen sehen und wertschätzend fördern. Ein Kind das kein Deutsch sprach? Ab auf die Bühne, dann machen wir halt Pantomime. Eine extrem talentierte Jugendliche? Da muss ich eben vermitteln, damit alle zusammenarbeiten können. Denn bei aller individuellen Förderung: Die Inszenierung soll schon trotzdem schön sein, damit auch alle stolz darauf sein können.

Diese Anforderungen sind anstrengend, aber ich will sie auf keinen Fall mindern. Nein, ich will, dass sie auf den Sport ausgedehnt werden, weil das ganz einfach echte Integration bedeuten würde. Es kann ja nicht sein, dass alle, die integriert sein wollen Theater spielen müssen – ist ja auch nicht jedermanns Sache. Rollstuhlfahrer_innen in die Fußballvereine! Auch wenn sich deren Arbeit dann verändern muss. Gerade weil sich deren Arbeit dann verändern muss.

Bislang kenne ich nur einen Verein, dem ich das theoretisch zutrauen würde: Roter Stern Leipzig e.V. Aber wie cool wäre es, wenn es nicht nur eine mixed abled Tanz-Company im LOFFT gäbe, sondern auch eine mixed abled Mannschaft bei RB-Leipzig?

Man wird ja noch träumen dürfen. Mein Sohn träumt auch.

Unsere Brache. Eine Liebeserklärung.

Ein bisschen verboten aber nicht zu gefährlich – mein Sohn und ich erforschen die Brachfläche im Leipziger Südosten.

Robinien haben weiche, federleichte Blätter und spitze, harte Dornen. Wenn ich unsere Brache vom S-Bahnhof Leipzig MDR aus betrete, hängt genau auf meiner Augenhöhe ein Beutel Hundekot in diesen Dornen. Seit die Blätter gewachsen sind, kann ich ihn nicht mehr sehen. Es ist April.

Die letzten Wochen haben wir oft hier verbracht – während Corona den Alltag lautlos vor die Wand fuhr, verbrachten mein Sohn, meine Mutter, mein Partner und ich den Frühling zwischen Glasscherben, Betonbrocken und Wildblumen. „Unsere Brache“ – das sind die lose durch Verkehrswege voneinander getrennten Brachflächen die sich vom Bayerischen Bahnhof bis fast nach Connewitz erstrecken. Ein ganz neues Stadtviertel soll hier entstehen, aber das, was dafür zerstört werden wird, das lässt sich nicht planen und nicht bauen.

Ein bisschen gefährlich, aber nicht zu verboten

Für ordentliche Menschen sieht der Ort natürlich siffig aus: Siffige Matratzen, ein siffiges altes Waschbecken und sehr viel kaputtes Zeug. Drauf darf man streng genommen auch nicht, aber die Zäune sind schon lange niedergetrampelt, das einzige Tor steht wochentags eh offen und wo kein Kläger ist – schon klar. Zugleich liefert diese „Zaun-Situation“ natürlich den winzigen Hauch Nervenkitzel, den Stadtkinder viel zu häufig gar nicht erleben können – etwas machen zu können, war ein bisschen verboten, aber nicht zu gefährlich ist. Die Pfützen sind hier größer, als in jedem Park, und mit Steinen darf man werfen, denn es ist genug Platz. Stundenlang haben wir Züge beobachtet (rote oder grüne Türen?). Die Kieshaufen auf der einzigen schon vorhandenen Baustelle umsortiert. Eidechsen beobachtet und Stöcke in tiefe Löcher geworfen. Abbruchhäuser erkundet und einen selbst gebauten Skaterpark entdeckt.

Als es Sommer wurde, begann mein Sohn, Glasflaschen zu zerschmettern. Stundenlang suchten wir Flaschen und dann einen Ort, an dem die Scherben niemanden beeinträchtigten. Und dann ging’s los: Ein bisschen asi, aber eine Sektflasche schafft mein Kind mit einem einzigen Wurf. Auf keinem Spielplatz der Welt könnte ich ihn das machen lassen.

Auch kulinarisch ist die Brache spannend: Zugewuchert mit Brombeeren, Kräutern, Blumen… Wir kochten Robinienblütensirup, ärgerten uns über den trockenen Sommer, der alle Brombeeren auf dem Gewissen hatte und fanden einmal sogar köstliche Rauke (Rucola). Mein Sohn weiß, was giftig ist und was lecker, und er weiß auch, dass man nicht in Hundehöhe pflückt. Die „siffige Brache“ war auch: ein naturpädagogischer Lernort.

Vor allem waren wir hier frei

Vor allem aber, und dafür liebe ich diesen Ort, waren wir hier frei, und mit uns viele andere Menschen. Der Vater, der mit seinem Sohn regelmäßig Einrad fahren übte. Die Jungs mit ihren Verstärkern und E-Gitarren, die stundenlang in der Sonne jammten und allen gute Laune machten. Die Unbekannten, die überall Vulven auf die Wege sprühten. Das Teenager-Pärchen, das sich in einen Autoreifen kauerte und gegenseitig wegen eines unbekannten Kummers tröstete. Und eben auch wir, die nach und nach jeden Winkel der Brache erforschten. Fast jeden.

Nun wird es Herbst, die letzten Blumen leuchten gelb, wir stöbern inzwischen nur noch am Wochenende. Irgendwann wird es losgehen, dann wird das gesamte Areal eine Baustelle, Wohnungen mit Parkplätzen werden entstehen und all die versteckten Scherben, Stöcke und Steine werden verschwinden. Und damit auch ein Stück Leipzig, dass mir sehr sehr lieb geworden ist. Denn das beste an Leipzig, das sind die Brachen.

Randnotizen V

Wenig schreibe ich zur Zeit – aber ein paar Notizen aus meinem Alltag haben sich doch mal wieder angesammelt. Dieses Mal mit zu leckerem Kuchen, einem sprechenden Baby und dem Wunsch ein Reh zu sein. Meine Pinnwand kann ich nicht fotografieren, denn ich bin nicht zu Hause. Aber vielleicht helfen ja Abitur und Yoga gegen meine fotografische Phantasielosigkeit?

Vorm Bäcker, wartend. Zwei hippe junge Frauen trinken Smoothies. „Also meine Mutter hat mir neulich ein ganzes Blech Kuchen gebacken. Ein ganzes Blech! Wie viele Kalorien das hat!“ – „Und meine Mutter so: Nein, da ist gar nichts drin, in dem Erdbeerkuchen… Aber da waren Eier drin, Milch, Butter, alles…“ Ihre Mütter machen alles falsch mit den Kuchen. Ich denke, dass ich das hätte sein können, vor einigen Jahren, die sich so über den falschen Kuchen und die Mutter beklagt. Und dass ich, seit ich Mutter bin, alles genauso falsch machen will.

Informationen für kinder

Kinderstadt. Zwei Jungs rennen zum Helferzelt, wichtige Frage: „Gibt es schon eine Polizei?“ – „Nein, noch nicht.“ – „Ah, gut!“ Sie laufen davon.

Freibad. Ich stille meinen Sohn. Kinder fragen, was wir da machen, Eltern antworten, dass er noch ein kleines Baby sei, das gestillt werden müsse. Mein Sohn ist zweieinhalb. Was in so einer Situation nicht hilft: Wenn das kleine Baby kurz absetzt, verkündet, die Brust sei heiß und dann weitertrinkt.

Die Härten des Lebens

Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs. Am Straßenrand stehen ein älterer Mann und eine sehr alte Frau. Diese schreit fürchterlich herum, sie wolle nach Hause… Der alte Mann fasst sie am Arm und brüllt sie an: Du kannst nicht nach Hause, du bist zu bekloppt dafür, du muss ins Heim!“ – Dann bin ich schon wieder weg. Aber ich muss noch lange über diese brutale Ehrlichkeit nachdenken.

„Ach wäre ich doch ein Reh, dann könnte ich diese lecker aussehenden zarten grünen Spitzen an den Fichten abknabbern…“, denke ich. Jeden Frühling. Liebe Biolog_innen, fressen Rehe Fichtentriebe? Und liebe Psycholog_innen, gibt es eine Diagnose für den Wunsch, ein Reh zu sein? Semi-normale Grüße, eure Solveig

Randnotizen IV

Ein langes Wochenende ist rum – mal wieder Zeit für ein paar Notizen aus meinem Alltag. Dieses Mal mit vielen Arztgesprächen, obwohl ich gar nicht krank war, einem philosophischem Gespräch in kindlichen Begriffen und meditativen Aufenthalten an einer Baustelle. Das Beitragsbild zeigt einmal mehr meine Pinnwand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Den Gutschein kann ich vermutlich nicht mehr einlösen, oder?

Ich bin mit dem Sohn auf dem Spielplatz. Er spricht neuerdings sehr viel. Gerade hat es eine vertrocknete Pflanze entdeckt und zerrt daran.
– Mama, Mama!
+ Das ist eine Pflanze. Die ist tot.
– Fanze. Fanze dit. Dit!
Es ist das erste Mal, dass ich höre, dass mein Kind das Wort „tot“ ausspricht. Ich merke, wie er prüft, was das neue Wort bedeuten könnte. Wieviele philosophische Denkschulen habe ich mit meinen sieben Wörtern jetzt umgesetzt oder nicht umgesetzt?

Arztgespräche

Arztgespräch I: Mit meinem Sohn unterwegs: Der Gehweg ist ein Stehweg. Er fummelt also an einem Zaun rum, ich warte mütterlich-geduldig-resigniert-die Sonne genießend. Eine junge Frau kommt mir entgegen, schiebt ihr Rad mit Kindersitz, lebhaft telefonierend. Sie kommt mir bekannt vor. „Klar, ich mach das gerne! Operieren, das kann ja jeder Handwerker…“ Klar, das ist meine Orthopädin!

Arztgespräch II: Ich werde noch eine Weile vor diesem Zaun stehen, und deshalb schweife ich ab, zu einem anderen Arztgespräch – schwanger (noch geheim) stand ich am Burgermeister und zog mir Pommes rein (nur das ging). Am Nebenstehtisch wieder eine lebhafte junge Frau, offenbar vom Klinikum Borna (bekannt für einen sehr bedürfnisorientierten Stil im Kreißsaal): Wassergeburt sei doch eklig, da sträube sich ja schon alles in ihr dagegen, ein Kind in dieses verkeimte Wasser zu kriegen. Sie stünde den ganzen Tag im OP, ja, Kaiserschnitte. Ja, unter der Haut sei so eine weiße Schicht, die man dann so mit den Fingern auseinander zöge, aber schneiden müsse man natürlich trotzdem. Und so weiter. Ach, denke ich, wäre es nicht schön, wenn ich nicht wüsste, wie über das, was mir möglicherweise bevorsteht gesprochen wird?

Achtsames baggern

Um eine Straße vom Asphalt zu befreien, muss man mit einem Bagger zuerst behutsam die Versiegelung aufknacken, was sehr genaue und sensible Bewegungen des Steuerknüppels erfordert. Anschließend schiebt man die Kante der Schaufel des Fahrzeugs sorgfältig unter die Asphaltschicht und hebt diese leicht an, so dass sie sich hochwölbt und im Idealfall auf einer Länge von 1-2 Metern abbricht. Die so entstehende Platte lässt sich nun mit viel Geschick nochmal zusammen falten, so dass sie in der Mitte bricht. Solchermaßen „handlich“ geformte Stücke können nun leicht abtransportiert werden.

Um sich dieses Wissen anzueigenen, muss eine Theaterwissenschaftlerin lediglich Mutter werden.

Edit: In einer früheren Version dieses Textes war von einem Radlader die Rede. Inzwischen (und nach mehreren Monaten intensiver Bautätigkeit auf der Karl-Liebknecht-Straße) kenne ich den Unterschied zwischen Radladern und Baggern. Natürlich habe ich den Sachfehler im obigen Text daraufhin sofort (nach ca. 2 Monaten) behoben. Man muss natürlich einen Bagger benützen!

Im letzten Jahr geliebt: Kinderbücher

„Im letzten Jahr gelernt“ – mit einer langen Aufzählung beendete ich vor einem Jahr hier auf dem Blog meine Elternzeit. Geblieben ist die Lust darauf, häufiger zu würdigen, was für tolle künstlerische Werke oder Orte ich dank des Mutter-Seins jetzt entdecken kann. Deshalb hier meine Lieblingskinderbücher aus dem letzten Jahr – keine Geheimtipps, sondern eine persönliche Zusammenstellung der Bücher, die mir (ja, mir!) im letzten Jahr am meisten Spaß gemacht haben.

An erster Stelle: Wimmelbücher

Dazu gehören ganz vorne die „Wimmelbücher“ von Rotraut Susanne Berner – das Herbst-Wimmelbuch musste ich phasenweise 1 Stunde am Tag akribisch durcharbeiten, mit Tiergeräuschen und allem. Die Welt von Wimmlingen ist unglaublich reich, Personen, Tiere und Geschichten werden über mehrere Bände immer wieder aufgegriffen und entwickeln sich weiter (Kinder werden geboren, Baustellen werden zu Häusern…), wie das Leben eben so ist. Und das Beste: Der Humor. Wenn die Nonne für den Laternenumzug extra eine Pinguinlaterne besorgt, dann macht das Gesamtbild einfach Spaß.

Das Wimmelbuch an sich ist allerdings längst als Marketing-Instrument entdeckt worden, und somit haben wir hier einiges an Literatur angesammelt. Hervorheben möchte ich die Ausgabe des Zoos Leipzig: Ausnahmsweise einfach dafür dass sie meinen politischen Ansprüchen genügt. Kinderbücher sind natürlich eine Kunstform und kein Erziehungsmaterial. Doch gerade weil der Zoo Leipzig eben in Sachsen liegt ist es ein Statement, dass hier Kinder aller Hautfarben, Kinder mit Behinderungen, Väter und Mütter in der Betreuungsrolle etc. völlig selbstverständlich ihre Abenteuer erleben. Zum Vergleich: Im „Leipzig Wimmelbuch“ kommen Frauen im Porsche-Werk nur auf der Besucher_innenebene vor (zusammen mit Kindern), schwarze Menschen sind praktisch nicht sichtbar usw. Dies dürfte den hiesigen Erwartungen im Großen und Ganzen entsprechen. Schön, dass der Zoo das anders macht!

„Das kenn ich schon!“ – ein famoses Bildwörterbuch von Moni Port. Gekauft habe ich es, weil ich den Prozess der Kategorienbildung im Spracherwerb so spannend finde. So hatte mein Neffe zeitweise ein Wort für alles, was cool ist und sich bewegt: also Tiere und Busse. Moni Port bedient in ihrem Buch die klassischen Kategorien, bricht aber auch immer wieder aus, wenn das Kuscheltier den Tieren zugeordnet wird und der alte Schuh der Natur – denn da wurde er schließlich gefunden. Ein großer Fan bin ich natürlich von der Kategorie NEIN!

Erste Geschichten

Die Geschichte „Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat“ – die habe ich mir schon im Studium gekauft. Gute Literatur über Kacke, da muss man doch zugreifen. Wunderbar, die spannenden Teile der Geschichte mit der Beschreibung weicher, duftiger Tatsachen immer in Klammern zu setzen. Tatsächlich die erste Geschichte, die mein Sohn sich von Anfang bis Ende vorlesen ließ.

Die zweite war natürlich „Die kleine Raupe Nimmersatt“, oder wie es hier liebevoll genannt wird: „Raupesatt“. Kennt jeder: DIE Geschichte einer Metamorphose, wunderschöne Bilder, Löcher zum Finger reinpieken. Das Lieblingsbuch von George W. Bush. Somit wissen wir, dass er wenigstens ein gutes Buch gelesen hat.

Gut bebildert

Unzerreißbar, nicht mit Wasser aufzuweichen, extrem leicht – das Material war der Grund dafür, dass ich „Kunterbunt, na und“ von Guido van Genechten gekauft habe. Sehr praktisch, wenn Bücher auch gern als Nachspeise umgenutzt werden! Die Illustrationen sind allerdings einfach und trotzdem doppelbödig: Alle Krokodile haben eine Farbe, nur eins ist anders… Erst nach zig Durchgängen habe ich bemerkt, dass sich die Tiere nicht nur in puncto Farbe unterscheiden, sondern es auch immer noch andere Details gibt, so dass plötzlich ein ganz anderes Exemplar aus der Reihe tanzt. Echt gut gemacht!

Das Möge-Buch – so nennen wir „Ich mag“ von Constanze von Kitzing. Aus der Stadtbibliothek spontan herausgegriffen war es ein großer Erfolg. Die Struktur ist einfach: Ein Kind sagt, was es mag, auf der nächsten Seite genießt es genau das. „Ich mag den Regen!“ – „Ich mag kleine Sachen!“ – „Ich mag Baustellen!“ Mein Sohn kann es schon jetzt komplett „vorlesen“. Bilder und Ideen sind ein echter Genuss: So schön! So viel Tiefe! So viel Humor! Mein Highlight ist natürlich der Junge, der es mag, nachzudenken: bewegungslos mit angedeutetem Augenrollen. Das mag ich auch.

Ebenfalls aus der Stadtbibliothek kommt „Kleiner Bruder, großer Bruder“ von Inka Friese und Elena Shumilova, das ich einfach nur für mich mitgenommen habe. Es ist selten, dass eine Geschichte mit Fotos illustriert wird, und diese hier sind so idyllisch, dass ich sofort hineinschlüpfen möchte. Ein wenig beobachte ich an mir auch die Tendenz, die Geschichte als kitschig abzutun; doch das ist unfair. Sie erzählt von zwei, bald drei Brüdern, von großer Verlustangst und Trauer in einem Klima von Geborgenheit. Solche Geschichten könnten wir alle öfter brauchen.

…und was zum Singen!

Und zum Abschluss noch ein Kracher: „Das kleine Kinderliederbuch“ (gesammelt von Anne Diekmann). Das haben schon mein Bruder und ich zerfleddert, und es macht großen Spaß, die Lieder laut und falsch zu schmettern und die deftigen Bilder von Tomi Ungerer zu bestaunen (Brüste, Blut, „Kind Popo?“-alles dabei). Wir sollten alle öfter singen, oder?

Das waren sie, meine Highlights. Über Tipps freue ich mich sehr. Und wenn ihr in Leipzig wohnt: Geht alle in die Buchhandlung Serifee. Da sehen wir uns dann!

PS: Da ich weder von Serifee, noch von irgendeinem Verlag Geld für diesen Post bekommen habe, dürft ihr euch die Verlagsinformationen im Zweifel selbst raussuchen. Aber das lohnt sich!

Randnotizen III

Ein paar Notizen aus meinem Alltag – für mich als Materialsammlung, für euch, falls es interessiert. Dieses Mal mit einem Fall von unfreiwilligem Stalking, einem unverhofften Zusammentreffen mit der Polizei abseits ihrer Komfortzone und dem unangenehmen Gefühl, die Freiheit der Kunst im eigenen Kopf durchzusetzen. Das Beitragsbild zeigt mal wieder meine Pinnwand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Was machen!

8:15 Uhr, der Sohn und ich verlassen das Haus. Auf der anderen Straßenseite arbeitet eine Frau mit einem Laubbläser – der Sohn ist fasziniert. Wir beobachten sie ein Weilchen und ziehen dann weiter in Richtung Tagesmutter.
8:45 Uhr, ich kehre allein zurück. Die Frau kommt mir mit dem Laubbläser entgegen, sie lächelt freundlich. Ich lächle zurück und sage ohne lange nachzudenken: „Mein Sohn ist Fan von Ihnen!“ „Ach ja?“, fragt sie. „Ja, wir haben Sie kurz beobachtet, nehmen Sie’s nicht persönlich!“, antworte ich und verschwinde im Haus.
ratterratter, klickklick, denkdenk… NEEEEIN! Erst im Haus fällt mir auf, dass ich vielleicht hätte erwähnen sollen, dass mein Sohn erst anderthalb Jahre alt ist.
Liebe freundliche Dame der Stadtreinigung, wir sind keine Stalker, haben keine Fotos gemacht und ich werde Sie nie wieder ansprechen!

Besetzung aufgegeben!

Ich warte auf eine Besprechung im Conne Island. Es ist herbstlich, die Füße werden kalt, im Hintergrund zieht ein Skater seine Kreise. Plötzlich öffnet sich die mit Aufklebern übersäte Tür. Drei ältere Polizisten in Ausgehuniform treten heraus: „Wir geben die Besetzung auf!“, lachen und verlassen das Gelände. Später erfahre ich, dass einer von ihnen Bernd Merbitz (Polizeipräsident Leipzig) ist.

Seit einigen Wochen nehme ich an einer Seniorensportgruppe teil. So nehme ich das jedenfalls wahr, natürlich ist es in Wirklichkeit Reha-Sport (für mein Handgelenk, egal). Aber alle sind wirklich viiiiiiel älter als ich. Sie haben weißes Haar, reden in der Umkleide von „der Pflege“ und „Schicksalsschlägen“. Eine untrennbare Masse Senioren. So meine Wahrnehmung. Im Gespräch mit einer der Damen höre ich allerdings heraus: Sie nimmt die Altersspanne des Kurses deutlich breiter wahr. Heute gelernt: Ich bin „ab 60 blind“.

Weihnachtsmarkt. Ich habe eine Mission: Einen Forum frei-Karton entsorgen. Auf dem steht „Ergebnis: Ziegen gefressen, dumm geschaut und wieder um Hilfe gerufen“. Es ist mir peinlich. So peinlich! Und überall Betonquader gegen Terroristen, auf die jemand „Danke, Merkel“ gesprüht hat. Überall Polizei. Leute gucken misstrauisch. Ich stelle den Karton ab, mache mein Foto und verschwinde. Die Freiheit der Kunst beginnt wohl im Kopf?

Randnotizen II

Ein paar Notizen aus meinem Alltag – für mich als Materialsammlung, für euch, falls es interessiert. Dieses Mal mit viel bzw. wenig Medienkompetenz, Erziehungstipps direkt aus der Hölle und einer unangenehm belustigten Bäckereifachverkäuferin.

Als erstes die Erklärung zum Beitragsbild: Beim Putzen höre ich manchmal „50 Shades of Grey II“. Weil es da ist. Und ich Trash manchmal ganz nett finde. Und überhaupt – egal. Die Stelle mit dem iPad erklärt allerdings ganz gut, warum Mädchen nicht in MINT-Berufen landen, finde ich. Hab’s mal korrigiert.

erziehungstipps aus dem zoo

Zoo, Himalaya-Gebirge, Sohn tapst fasziniert auf kleinen Jungen zu. Sein Mund nähert sich dessen Arm, und weil er manchmal beißt, frage ich das andere Kind, ob alles in Ordnung ist. Es ist alles in Ordnung. Die Oma kommt dazu, will wissen was und überhaupt. Ach, der beißt? Ja, das habe sie von einer Pädagogin, irgendwann helfe da nichts mehr, da müsse man dem Kind einmal auf den Mund schlagen.

Suche Nebenjob, aus Gründen. Bewerbungsgespräch „Datenverarbeitung“, der Chef spricht von „Kunden“, die sich nicht mit Finanzen auskennen, und Beratungen, die seine Firma durchführe. Also potentiell auch ich. Ich frage nach – die Kunden zahlen also für die Beratung? Nein, das übernähmen die Unternehmen, deren Produkte man in der Beratung vermittele. Und die Bezahlung ist dann auf Provision? Ja, ganz recht. Ich lächle höflich, seit wir Familienfinanzen haben, sprechen wir derlei Entscheidungen ab. Mein Partner reagiert auf die beste Weise der Welt: Das machst du NICHT!

Digitalisierung verschlafen

Mittagschlaf. Ja, das Kind schläft. Ich fange an, dösig zu werden. Da klingelt es! Vor der Tür stehen zwei Jungs, gekleidet in das, was ich als H&M-junge Business-Mode bezeichnen würde, Hornbrillen, Akte in der Hand, wahrscheinlich halb so alt wie ich. Ich blinzle. Ja, man sei von der Telekom, ob denn unser Internet in letzter Zeit funktionieren würde, ich muss sehr müde wirken, die Frage wird spezifiziert, ob ich denn das Internet nutzen würde. Denk. Denk. Gibt es denn noch Haushalte, die das Internet nicht nutzen?, frage ich. Ja, das gäbe es schon, aber ob wir denn überhaupt bei der Telekom wären… ich behaupte, dass ich das nicht wisse, weil ich gerade auch gar nichts mehr weiß und nur auf das ordentliche Hemd und die Hornbrille starre. Der Junge fragt, ob wir denn Post erhalten hätten. Beim Wort Post malt er tatsächlich mit beiden Zeigefingern ein Viereck in die Luft. Er. Malt. Ein. Viereck. In. Die. Luft!

Es ist 17:59 Uhr, um 18 Uhr macht die Bäckerei zu und ich habe es noch geschafft. Das letzte Brot habe ich schon unterm Arm, da sehe ich noch eine Tüte Mini-Brötchen, die echt lecker aussehen. Was die kosten, frage ich – Ja, die kosten 88 Cent!, schallt es zurück. 88 Cent? Das ist ja ein komischer Preis, denke ich befremdet, höre ich mich sagen. Die Bäckereifachverkäuferin lacht laut, ja, da könne sie nichts dafür, die Preise würden „oben“ gemacht. Offensichtlich ist das allerdings besonders lustig. Ich kaufe die Brötchen nicht. Niemand hat auch nur ein Wörtchen über das Symbol 88 gesagt. Bin ich zu empfindlich? Ihr sofortiger Hinweis, sie trage keine Verantwortung und die Tatsache, dass sie darüber so sehr gelacht hat waren mir richtig unangenehm.

Wie läuft es eigentlich… im Bienenland?

Traurig, manchmal sogar problematisch an der Projektarbeit ist oft der enge zeitliche Rahmen, in dem alles passiert und vobeigeht. Und dann gibt es sie manchmal aber eben doch: Die Dauerbrenner. Projekte, die sich immer wieder verändern, neu erfinden, unter erheblichem Aufwand irgendwie weitergehen. Von diesen Projekten gebe ich ab sofort dann und wann ein Update, um die Arbeit sichtbar zu machen, die darin steckt, um das Projekt für mich und euch zu rekapitulieren, manchmal auch, um mich einfach daran zu erfreuen. Als erstes: das Bienenland.

Warum heißt es eigentlich „Bienenland“? Wir sind keine Bienen! Wir haben kein Land! Warum Bienenland?

Diese mit Vehemenz gestellte Frage (Aussage! Kampfschrei! was auch immer) ist in den letzten Wochen aufgekommen. Möglicherweise steht unser kleiner mobiler Staat vor einer neuen Transformation?
Vor zwei Jahren wäre das undenkbar gewesen: Im Februar 2015 gründeten wir mit viel Pomp und der Nationalhymne Coco Jambo unseren eigenen Staat mit ganz eigenen Gesetzen, Bräuchen und Prioritäten. Alles was geschah, geschah in Abstimmung aller Bienenbürger_innen: geflüchtete und nicht geflüchtete Kinder und auch immer wieder Erwachsene. Die Erfahrungen rund um Armut, Traumata und Alltagsrassismus rund um dieses Projekt haben mich sehr geprägt.

Das ursprünglich als Recherchephase angelegte Leben im selbst gegründeten Staat erwies sich als außerordentlich fruchtbar – wie schwierig es ist, das Zusammenleben von Menschen zu organisieren, und welche Bedürfnisse es dabei zu befriedigen gilt! Zugleich blieb es eine Herausforderung, in der Gruppe überhaupt irgendetwas zielorientiert anzugehen. Die Förderung über tanz+theater machen stark sah als dritte Phase eine Inszenierung vor, die wir Erwachsenen gern gemacht hätten: So spannend fanden wir die Forschungsergebnisse, so wichtig die Aufmerksamkeit für die Bienenbürger_innen. Und doch gab es da auch die realistische Sorge: Wie vereinbaren wir die Bedürfnisse der Gruppe mit den Anforderungen an Struktur und Disziplin, die mit der Theaterarbeit einhergehen würden? Oder besser: Würden die Kinder Bock auf Theater haben? Alle Ideen, die uns erfolgversprechend erschienen, wären für ein derartiges Projekt ungewöhnlich, schwer förderfähig gewesen. Vermutlich (so denke ich jetzt) war dieses Dilemma im Antrag spürbar. Er wurde nicht bewilligt.

keine finanzierung, zig kinder

Und so gab es keine Finanzierung mehr, wohl aber zig Kinder, die uns jeden Dienstag entgegen rannten und eine Arbeit, die uns wirklich sinnvoll vorkam. Wir suchten ehrenamtliche Helfer_innen. Ich verschwand nach Krankheit und Geburt in die Elternzeit. Und mag mir kaum vorstellen, wie viel Kraft es meine Kolleginnen gekostet haben mag, das Fortbestehen des wöchentlichen Angebots „Bienenland“ zu gewährleisten.

Heute sind wir nicht mehr zwei, sondern vier Kulturpädagoginnen und eine Medizinerin, die die konzeptionellen Fäden ziehen. Wir betreuen um die zehn Freiwillige, unterstützen bei der Umsetzung eigener Ideen und versuchen darauf zu achten, dass nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen Gelegenheit haben, sich weiterzuentwickeln. Auch an Rückendeckung in schwierigen Situationen soll es nicht fehlen; bei jedem Dienstagstermin ist eine von uns dabei. Wir bemühen uns um Kontakte in die Kulturinstitutionen der Stadt, an Orte, die den Kindern gefallen könnten. Und natürlich entwickeln wir auch immer wieder Projekte, die für „unsere“ Gruppe interessant sind, beantragen Gelder und summen so ein Stückchen weiter auf unserem Weg.

Inhaltlich arbeiten wir eng an den Wünschen der Gruppe entlang – wir sind Möglichmacher_innen. Dieser Geist des Ursprungsprojekts ist geblieben – wenn du etwas willst, dann nehmen wir dich beim Wort. Ein Märchenschloss? Wir bauen es nicht, aber wir geben wir Holz und Hammer. Neue Regeln? Wenn es dir gelingt, die anderen Gruppenmitglieder zu überzeugen, können wir unsere Regeln ändern. Nicht mehr Bienenland heißen? Wir werden sehen, was hier noch geschieht… Wir unterstützen die Kinder bei ihren Projekten, genauso aber auch die Freiwilligen, beraten wo nötig und freuen uns über alle Erfahrungen.

unfinanziert und doch so nachhaltig

Und so läuft das Bienenland eben weiter. Im Kernbereich unfinanziert und dennoch so nachhaltig. Wenn ich mir etwas für die Zukunft unseres kleinen Lands wünschen dürfte, dann wäre das Planungssicherheit. Und viele neue Freiwillige. Habt ihr Lust? Dann macht mit!

Harte Fakten: Das Orga-Team besteht aus Katharina Wessel, Bettina Salzhuber, Johanna Dieme, Klara Pegels, Solveig Hoffmann. Räumlich und zeitlich verortet ist das Bienenland am Dienstagnachmittag in den Atelierräumen von Hildes Enkel.