2022 gelesen

Meine Kernkompetenzen bestehen gerade im Husten und Leiden. Und dann habe ich auch noch Ende letzten Jahres meinen Kalender (ja, einen Papierkalender) verloren. Mit der Leseliste. Grmpf. Aber Traditionen wollen gewahrt werden, und deshalb habe ich so ungefähr versucht zu rekonstruieren, welche Bücher ich 2022 gelesen habe. Also los:

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin, Die Geschichte eines neuen Namens, Die Geschichte der getrennten Wege, Die Geschichte des verlorenen Kindes – Hat mich sehr beschäftigt. Die Texte sind so dicht, dass ich Mühe hatte, sie zu greifen… Worum geht es in den Büchern überhaupt? Laut Klappentext um Freundschaft, dabei habe ich selten so wenig über echte Nähe gelesen. Worum es mit Sicherheit geht: Armut. Gewalt. Selbstbehauptung und Scheitern. Italienische Geschichte. All diese Themen hätten nicht über zwei Frauen erzählt werden müssen. Aber nur über zwei Frauen konnten die Härten und die Sehnsüchte der Menschen so spürbar werden. Große Empfehlung.

Julia Quinn: Bridgerton – Der Duke und ich, Wie angelt man sich einen Viscount Das erste hatte ich doch schonmal gelesen? Habe schon wieder alles vergessen.

Mein Buch des Jahres.

Tove Jannsson: Das Sommerbuch – DAS Buch. Mein Buch des Jahres. Nicht klug, sondern weise, auf jeder Seite. Der Sommer, das kann in Finnland schonmal Eis bedeuten. Alles hat im Leben Platz. Das ist schwer. Oder nicht. Und das Gebiss der Großmutter ist in die Pfingstrosen gefallen. Nur Tove Jannsson kann ein völlig unaufgeregtes Buch über leben und sterben schreiben. Lest es alle!

Jan Gorkow: Niemals satt – Ich bin jetzt nicht unbedingt Fan von Feine Sahne Fischfilet, aber ihr Engagement gegen Rechts fand ich gut, und so stieß ich auf das Buch. Der Autor ist verdammt ehrlich – Respekt. Öfter mal wiederholt er sich, aber das ist okay. Deutlich wird aber auch, wie wenig Unterstützung Menschen mit Essstörung bekommen, gerade wenn sie eben dick sind. Da hätte man noch weiter gehen können, z.B. durch einen Austausch mit einer_m Psychologin_en.

Sophie Hénaff: Kommando Abstellgleis – Netter Krimi aus Frankreich.

Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und das Vomhimmelhoch, Rico, Oskar und das Mistverständnis – Das ist einfach eine wunderbare Kinderbuchreihe. Und die hält ihr Niveau auch in den letzten beiden Teilen.

Heide Keller: Das Traumschiff – Wir haben innerfamiliäre Laster. Wer mit mir über das Traumschiff sprechen möchte, kann sich gerne melden!

Astrid Lindgren: Ronja Räubertochter – Das erste lange Buch, das ich meinem Sohn vorgelesen habe. Vielleicht das beste von Astrid Lindgren.

J K. Rowling: Harry Potter und der Stein der Weisen – Auch für meinen Sohn. Ich finde die Bücher der Potter-Reihe immernoch gut, aber natürlich steigt die Autorin gleich mit ordentlich Fatshaming ein. Ich finde, dass man mit Kindern über sowas reden kann und sollte und wir hatten großen Spaß am Abenteuer.

Roald Dahl: Charlie und die Schokoladenfabrik – Was ist der Unterschied zwischen deutscher und englischer schwarzer Pädagogik? Die englische ist lustig. Auch weil mehr als deutlich wird, dass die eigentliche Verantwortung bei den Eltern liegt. Achja: Mein Sohn ist seither Süßigkeitenforscher.

Michael Ende: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer – Noch so ein schlecht gealterter Klassiker. Einerseits wunderbare Szenen, wunderbare Ideen. Andererseits jede Menge Kolonialismus und wahrscheinlich gut gemeinter Rassismus. Also wieder: lesen und drüber reden.

Eine Frau hört auf zu schlafen und wird in der gewonnenen Zeit sie selbst.

Haruki Murakami: Schlaf – Eine Frau hört auf zu schlafen und wird in der gewonnenen Zeit sie selbst. Die Welt hält das nicht aus. So einfach und klar liest sich Murakami selten. Mit wunderschönen Bildern.

Roald Dahl: Hexen hexen – Auch mit meinem (hartgesottenen) Sohn. Die Hexen sind ultrafies und der Protagonist wird leider in eine Maus verwandelt. Dumm gelaufen, weiter geht’s. Wegen sowas mag ich Roald Dahl so gern.

Roald Dahl: Sophiechen und der Riese – Eines seiner besten Kinderbücher. Und übrigens auch eine Ehrung der verstorbenen Queen!

Tilman Röhrig: Robin Hood. Solang es Unrecht gibt. Ich wollte mal was schmökern… Aber der Schreibstil war leider schrecklich gespreizt. 1€ für jeden Satzanfang mit Partizip.

Bernd Riehm, Daniel Stemmrich: Lassaner Mosaik. Hinter offenen Türen. – Platzdeckchen, Porzellanfigürchen und eine Menge Geschichten von Zeitzeug_innen aus Lassan. Damit verbinde ich viel, sowohl persönlich als auch aus beruflicher Überzeugung. Redet alle mehr mit euren Nachbar_innen.

Thees Uhlmann: Die toten Hosen – Ist schon schön. Aber Band und Autor eint eben auch: die Abwesenheit von existentiellen Erfahrungen. Das ist absolut in Ordnung. Aber irgendwann habe ich mich das halt gefragt, wie Thees Uhlmann in Hoyerswerda klargekommen wäre. Wir werden es nie erfahren.

Ingeburg Kretzschmar: …daß es euch gut gehe – Aus dem Antiquariat im Schloss Stolpe mitgenommen. Texte, Briefe an Kinder, für mich als Wessi von ungewohnten Autoren – teils voll auf Parteilinie, manchmal aber auch einfach sehr schön. Interessante Leseerfahrung für mich.

Wie wird man im alten Rom Gynäkologin?

Penélope Bagieu: Culottées. Des femmes qui ne font que ce qu’elles veulent – Absolut tolle Comics über Frauen, die nur machen, was sie wollen: Von der Gynäkologin im alten Rom zur Königin des Kongo und so weiter. Ich konnte gar nicht aufhören zu lesen. Gibt’s das schon auf deutsch?

Sirka Elspaß: ich föhne mir meine wimpern – Ich kenne die Autorin von Instagram, sie vereint tiefes Leid und ehrlichen Humor, ich mag sie sehr. Ihren ersten Gedichtband werde ich öfter lesen.

Charly Mackesy: Der Junge, der Maulwurf, der Fuchs und das Pferd – Kennt ihr das? Ein Buch ist einfach nur freundlich. Warm. Herzlich. Es gibt endlich mal Antworten. Und dann denkst du: Das muss Kitsch sein! Nun, dies ist kein Buch für Besserwisser, sondern eins für Leute, die sich aufwärmen wollen. Wunderschön ist es auch.

William Goldman: Die Brautprinzessin – Witzige, selbstironische und überaus unterhaltsame Genrespielerei. Ich weiß nicht, ob das Fantasy ist, aber ich hoffe es, denn dann hätte ich ein gutes Fantasy-Buch gefunden. Und Stephen King spielt auch mit.

Und das war’s schon wieder… Dabei stapeln sich hier noch viel mehr Bücher. Und die Stadtbibliothek ruft. So vieles, was ich gerne noch lesen will! Was habt ihr auf dem Zettel? Ein frohes neues Jahr mit euren Büchern!

Der Wert von Kunst. Ganz kurz.

Permanent müssen sich Menschen dafür verantworten, dass sie einen nutzlosen Job machen und selber schuld sind, dass sie in prekären Lebensumständen lernen und leben. Ich habe keine Lust mehr, das zu diskutieren. Ich schreibe meine Antwort nun einmal hier auf und werde dann in Zukunft nur noch den Link teilen. Schluss damit, mich immer wieder zu wiederholen.

Ich traf vor einigen Wochen eine äußerst lebhafte Dame, vielleicht 20 Jahre älter als ich und absolut dazu in der Lage, innerhalb von Sekunden eine wilde politische Diskussion anzuzetteln. So stritt sie leidenschaftlich dafür, dass in Deutschland alle Menschen die gleichen Bildungschancen hätten.
Das konnte ich natürlich nicht auf mir sitzen lassen, PISA-Studie, seit 20 Jahren, blabla, ihr wisst bescheid. Die Chancengleichheit endet in Deutschland spätestens in der Grundschule, alles schön wissenschaftlich belegt.


Ja, hob die Dame wieder an, das möge ja sein, aber sie habe jetzt von Stipendien geprochen, also von der Chancengleichheit im Rahmen eines Universitätsstudiums, da gäbe es doch nun wirklich alle Möglichkeiten.
Hä? Das überraschte mich ja nun wirklich. Also in meinem Studium, wandte ich ein, da hätten ja nun die wenigsten ein Stipendium gehabt, so endlose Möglichkeiten habe es da nicht gegeben… – Jaaaa, antwortete meine Gesprächspartnerin, da müsse man dann natürlich auch Leistung bringen, das sei ja klar!

Was haben Sie denn studiert?

Vor meinem inneren Auge zogen Kommilitonen vorbei, deren Magisterarbeiten den Umfang von Doktorarbeiten hatten, die Monat um Monat in unbezahlten Praktika verbrachten, die auf eigene Kosten nach Berlin fuhren um irgendwelche Inszenierungen anzugucken…
Also ich habe mit 1,1 abgeschlossen, ich glaube nicht, dass es da jetzt um die Leistung geht, antwortete ich leicht zickig.
Was haben Sie denn studiert?
Theater- und Erziehungswissenschaften.
Achsooo… Nun ja, man sollte dann auch schon etwas studieren, was von allgemeinem Interesse ist, was auch gebraucht wird, das ist auch die Aufgabe der Eltern, darauf hinzuwirken, dass ihre Kinder etwas studieren, wovon man auch leben kann…


An dieser Stelle steuere ich die Unterhaltung mal langsam aus. Sie findet natürlich täglich irgendwo statt, permanent müssen sich Menschen dafür verantworten, dass sie einen nutzlosen Job machen und selber schuld sind, dass sie in prekären Lebensumständen lernen und leben. Ich habe keine Lust mehr, das zu diskutieren. Ich schreibe meine Antwort nun einmal hier auf und werde dann in Zukunft nur noch den Link teilen. Schluss damit, mich immer wieder zu wiederholen.

Fakt ist, dass eine Gesellschaft aus vielen Menschen besteht, die miteinander klarkommen müssen.


Also: Gibt es sie, die brotlosen Künste? Na klar! Meine EU-Rente beträgt 600€. Ein Witz.
Kann man daraus ableiten, dass künstlerische Arbeit wertlos ist?
Nein. Natürlich, erst kommt das Fressen, dann die Moral. Das ist aber immerhin schon der zweite Platz, da hat noch keiner seine Steuererklärung gemacht oder den Rasen gemäht.


Fakt ist, dass eine Gesellschaft aus vielen Menschen besteht, die miteinander klarkommen müssen. Aus Identitäten, aus Einzelpersonen und Gemeinschaften. Und es ist absolut wichtig, sich auf all diesen Ebenen zu spüren, kennenzulernen, miteinander umzugehen. Sonst funktioniert das System nicht. Oder es funktioniert eben zu gut.
In einer sächsischen Kleinstadt mit größtenteils rechtsoffenen Bürger_innen wird es immer auch Menschen geben, die sich in dieser Mehrheitsgesellschaft nicht wiederfinden, die anders denken oder fühlen. Die treffen sich nicht im Ingenieursbüro oder in der Anwaltskanzlei. Die treffen sich bei Künstler_innen und Geschichtenerzähler_innen. Bei Sozialpädagog_innen, vielleicht auch in Therapiegruppen. Manchmal in Religionsgemeinschaften. Fast immer bei unterbezahlten Menschen. Wenn es sie nicht gäbe, gäbe es dafür keinen Raum, und ich bin sicher, dass uns der Laden wesentlich häufiger um die Ohren fliegen würde. Vermutlich gibt es auch deshalb ein Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe.


Und das war`s. Eine bessere Bezahlung wäre wünschenswert, aber vorerst wäre es auch schon nett, wenn der Wert von Kunst nicht mehr permanent in Frage gestellt würde. Herzlichen Dank dafür, auch an die Dame, die mir diese Steilvorlage geschenkt hat. Liebe Grüße! Sol

mein tief.unten

Wie sich eine Depression anfühlt, das ist schwer zu verstehen, sagt man. Ich weiß es auch nicht. Ich kann nur erzählen, von meinem Blick auf meine Depression. Und weil ich Lust hatte etwas auszuprobieren, ist ein kleines Zine entstanden. Thema: Lächeln und Nicken.

Es ist Sommer, die Tage hopsen vorbei. Ich hatte mir mal erzählt, dass die EU-Rente eigentlich auch ein bisschen wie ein künstlerisches Stipendium sei, dass ich nie wieder so viel Zeit für meine Ideen haben würde. Das ist möglich. Aber trotz aller Liebe zur Kreativität gibt es auch Freund_innen, Netflix, den See… und wahnsinnig viele Cafes, die ich mir eigentlich nicht leisten kann. Währenddessen stauen sich die angefangenen Textdateien auf meinem Desktop, der Nobelpreis für Literatur wird noch warten müssen. Es ist kompliziert.

Kompliziert scheint auch ein anderes Thema zu sein, das mich mein Leben lang begleiten wird: Depression. Wenngleich das Internet voll von gut recherchierten und aufbereiteten Informationen ist – zum Beispiel hier – stoßen Betroffene und Angehörige nach meiner Erfahrung immer wieder auf zwei Probleme:

  1. fehlt in der Regel eine Anlaufstelle, die alle Baustellen dieser Erkrankung – medizinische, psychische, soziale, arbeitsrechtliche und finanzielle etc. – im Blick hat und an entsprechende Stellen ganz konkret im jeweiligen Ort verweist. Diese Informationen müssen sich viele mühsam selbst erarbeiten, im besten Falle können andere Patient_innen helfen – wenn man denn mit anderen ins Gespräch kommt. Dieses Problem ist riesengroß, und ich überlege oft, wer das lösen könnte.
  2. höre ich immer wieder den Klassiker: „Wie man sich da fühlt, das kann man sich vermutlich einfach nicht vorstellen…“

Keine Ahnung. Ich weiß auch nicht, ob es erstrebenswert ist, sich das vorzustellen. Aber die Empathie zu verstehen, dass es schlimm ist, die brauchen Betroffene ganz bestimmt. Und ich finde es umgekehrt auch total gut es zu versuchen, zu versuchen zu beschreiben, was in einem vorgeht.

Depressionen sind eine Krankheit, die über die Persönlichkeit der Erkrankten wahrgenommen wird.

Depressionen sind eine Krankheit mit spezifischen Symptomen, und diese bahnen sich ihren Weg durch ganz unterschiedliche Persönlichkeiten. Ärzt_innen und Therapeut_innen können über Depressionen sprechen, ich kann nur über meine Depression sprechen. Mein tief.unten.

Durch die tolle Lyrikerin Sirka Elspaß habe ich für all diese Gedanken eine Form gefunden: Ein Zine soll es sein. Ich habe meine Dateien zusammenkopiert, verschoben, neu gemacht, Fotos hinzugefügt, den Scanner repariert… Und ein erstes Thema gefunden. Lächeln und nicken. Das ist das, was ich mache, in den Wochen, bevor es kracht. Ich tue, was alle gerne sehen, ich denke, ich schaffe alles weil ich muss, ich lächle und denke „ihr Arschlöcher“, und dann ist es bald vorbei. Beziehungsweise dann geht es erst richtig los.

Ein kleines Zine ist es geworden, die Einzüge stimmen nicht, hier und da wurde was abgeschnitten, aber ich freue mich. Es ist seit Jahren das erste, klitzekleine Projekt, das ich nicht nur angefangen, sondern auch beendet habe. Ich werde es hier verschenken, da verteilen, wenn ihr eins haben wollt, müsst ihr euch mit mir treffen. Ich freu mich jetzt einfach, dass ich das gemacht habe. Und nun: Zeit für Netflix. Oder so.

Von einer leeren Tasse – Wahrheiten über Bewerbungen

Neulich traf ich einen Bekannten, wir sprachen über dies und das und schließlich über Bewerbungsgespräche. Und dass diese nicht halb so schlimm sind, wie uns immer erzählt wurde. Hier einige Erfahrungen von einer Frau, die fast nie eine Bluse bügelt und trotzdem Jobs und Aufträge bekommt.

Wir schreiben das Jahr 2017, es ist Frühsommer, mein Sohn gerade ein Jahr alt. Die Elternzeit endet, Geld will verdient werden, ich suche nach Jobs und Aufträgen. Jetzt gerade allerdings ist irgendwas mit Flüssigkeiten passiert (ich weiß nicht mehr so genau), der Sohn türmt in seiner Windel, ich in Hose und BH hinterher, halt, das Handy klingelt, unbekannte Nummer, ich gehe ran und weiter ins Badezimmer. Ja, guten Tag, meldet sich eine Frauenstimme, es geht um einen Job als Texterin und Ihre Bewerbung. Die Frau fragt, ich antworte, der Sohn wirft Gegenstände in die Badewanne, es scheppert ganz schön, ich erkläre, die Frau lacht. Keine Ahnung, worüber wir noch gesprochen haben, am Ende habe ich den Job und schreibe von nun an Website-Texte für Zahnarztpraxen. Und angezogen habe ich uns dann auch wieder.

Das war sicherlich mein chaotischstes Bewerbungsgespräch, nicht aber mein unprofessionellstes: Einmal hatte ich mir die falsche Zeit aufgeschrieben und kam deftig zu spät. Ein anderes Mal hatte ich noch Erfrierungen an den Händen, weil ich diese während einer Hand Mund Fuß-Erkrankung zu stark gekühlt hatte. Das war insofern authentisch, als ich auch im Job keine Maschine bin: Teamrunde und gleichzeitig das erkältete Baby stillen/bespielen/was auch immer. Von (volljährigen!) Jugendlichen eine Zigarette annehmen. Mit denselben Jugendlichen in Venedig Klingelmäuschen spielen. Und vielleicht war das sogar meine Idee.

Offensichtlich bin ich eine ganz schreckliche Person, wenn es ans Arbeiten geht.

Wenn ich das alles hier so zusammenfasse, bin ich offensichtlich eine ganz schreckliche Person, wenn es ans Arbeiten geht. Nach der Logik meiner Deutschlehrerin hätte ich nie einen Job finden dürfen. Die hatte mir nämlich erklärt, wie das geht mit dem Bewerben. Also, dem ganzen Deutsch-LK, damals 1999 am Konrad-Duden-Gymnasium in Wesel, Nordrheinwestfalen.

1999, das war die Zeit der Arbeitslosigkeit, die Zeit von Gerhard Schröder und den Horrorstories, die später die Agenda 2010 rechtfertigen sollten. Bewerbungsprozesse wurden gemeinhin wie eine Art „Kreuzweg“ geschildert, nicht selten las man von Menschen, die hunderte Anschreiben und Lebensläufe verschickten. Berichte dieser Art wiederum lasen dann mutmaßlich unsere Lehrer_innen – selbst verbeamtet und auf geradem Weg in die sichere Rente. Die Menschen, die uns auf die harte Arbeitswelt vorbereiten sollten, hatten diesbezüglich keinerlei persönliche Erfahrungen. Trotzdem gaben sie sich Mühe, und so spielten wir bei der besagten Deutschlehrerin Bewerbungsgespräche.

Guten Morgen, guten Morgen, möchten Sie einen Kaffee?, ja, *Kaffeehinstell. Sie möchten also XY werden, warum denn, ja, weil, blabla…, was sind denn Ihre Stärken? und Ihre Schwächen? Schwächen, die in Wirklichkeit Stärken sind sagen!, gut, wir melden uns, tschüs, tschüs, fertig. Jetzt Auswertung.

Eine Mitschülerin: Du wolltest Kaffee, hast dann aber gar keinen Kaffee getrunken. Spielerin: Weil in der Tasse gar nichts drin war.                                                        Lehrerin: Das könnte euch durchaus passieren, dass da nichts drin ist, dass das ein Test ist, um zu gucken, wie ihr da reagiert!

Was haben die uns für einen Stress gemacht!

Und genau das ist der Moment, auf den ich zurückblicke und dann denke: Was haben die uns für einen Stress gemacht! Und wie kontraproduktiv das war! Ich jedenfalls ging ziemlich schüchtern und verunsichert an Uni und Praktikumsplätze und musste mir das Wissen, dass eine Bewerbung kein Drama ist erst mühsam aneignen. Und deshalb schreibe ich nun das auf, was ich damals besser hätte hören sollen: 

  • Mach beruflich etwas, was du gerne tust und worin du gut bist. Punkt. Alles andere findet sich.
  • Bewirb dich für alles, was du interessant findest und zeige dein Interesse. Ein Quereinstieg kann eine feine Sache sein.
  • Bau dir unbedingt ein Netzwerk auf, die meisten Jobs (bzw. Gespräche) kriegt man eh über Beziehungen, und das ist auch richtig so: Wenn jemand schon ein Jahr zufrieden mit mir gearbeitet hat, sagt das weitaus mehr über mich aus als ein Gespräch.
  • Sei verbindlich, denn am Ende spricht man immer mit Menschen.
  • Und überleg dir selbst, was du möchtest: Nur weil jemand dich einstellen will, musst du das nicht auch wollen.
  • Darüberhinaus solltest du unbedingt immer wieder mit Kolleg_innen über Geld reden, sonst weißt du nie, was du nehmen kannst.

Und damit bin ich eigentlich immer ganz gut gefahren.

Und damit bin ich eigentlich immer ganz gut gefahren. Sicher mag es Branchen geben, in denen es ganz anders läuft. Doch auch mein Bekannter (Verpackungsingenieur oder sowas?) hatte noch kein Bewerbungsgespräch, das nicht abends beim Bier geführt wurde. Andere Menschen aus meinem Umfeld saßen plötzlich vor einer 15-köpfigen Komission (die abgefahrensten Sachen passieren immer in den Kommunen). Ich hatte auch mal den absoluten Hass-Job (Callcenter), der so furchtbar war, dass keiner dort arbeiten wollte und jede_r, absolut jede_r mitmachen durfte. Es gibt ganz verschiedene Wege. Aber niemand, wirklich niemand, stellt dir eine leere Tasse hin. Und wenn doch, dann frag, wo dein Kaffee bleibt.

Was sind eure Bewerbungserfahrungen? Bitte sagt mir, dass ich nicht die einzige bin, die es nicht schafft, sich eine Bluse zu bügeln! Und wie wurdet ihr in der Schule darauf vorbereitet? Ich bin gespannt auf eure Berichte.

Corona: Die Lösung, bitteschön.

Die Impfquote lässt zu wünschen übrig. Vulnerable Gruppen bezahlen dafür mit ihrer Bewegungsfreiheit. Die Debatte wird dabei eher als Geschrei geführt, gerade in der, ich sag mal ganz vorsichtig, nationalsozialistischen Szene. Auch esoterisch angehauchte Bürgerrechtler_innen haben Probleme. Dabei ist sie ganz einfach: Die Lösung. Macht die Impfung teuer! Dann wird`s schon werden.

Ich hatte mir ja die Impfpflicht gewünscht. Das war natürlich naiv: Wer die beschließt, muss sie auch durchsetzen, das finden viele Wähler_innen NICHT WITZIG, und damit ist die Sache gelaufen, der Drops gelutscht, die Impfpflicht abgelehnt. Möglicherweise hätten Merkel und Spahn die Chance gehabt, die Sache gleich mit den ersten Impfstoffen durchzuziehen, haben sie aber nicht, und nun haben sich die gesellschaftlichen Kräfte formiert. Zwischen Globulis und Hitlergruß ist die sachliche Debatte als erstes hops gegangen, und es tat weh zu sehen, wie Politiker_innen wie die Leipzigerin Dr. Paula Piechotta wirklich noch versuchten, einen auf Fakten basierenden Kompromiss auszuhandeln. Klappte natürlich nicht, und nun feiert: das Virus. Damit haben wir den Salat.

Der worst case, in Deutschland auch Eigenverantwortung genannt, ist eingetreten.

Der worst case, in Deutschland auch Eigenverantwortung genannt, ist eingetreten: „Eigen“ heißt „was mir passt“, und ja, das ist doch fein, ich übernehme gerne die Verantwortung für „was mir passt“. Im Supermarkt tragen manche Maske, manche nicht. Bei der Kassiererin baumelt sie unter der Nase, beim Kollegen ist es eine medizinische Maske. Beim Arzt muss es FFP2 sein, beim Therapeuten 1 auch, bei Therapeutin 2 geht’s ohne. Und im Bus kontrolliert eh keiner. Natürlich gibt es auch jetzt noch Regeln – aber die Einzelhandelskauffrau im Netto kann diese Regeln nicht durchsetzen, sie hat andere Aufgaben, agressive Impfgegner_innen/zahlende Kund_innen rauszuschmeißen gehört nicht dazu, auch wenn sie am Eingang ein Schild aufgehängt hat, man möge die Maske tragen. Wenn der Staat eine höhere Impfquote und die Umsetzung der Maskenpflicht will, dann muss er auch dafür einstehen, das kann er nicht auf das Personal der Supermärkte abwälzen.

Wenn die Maskenpflicht flächendeckend von Karl Lauterbach, oder meinetwegen auch von seinen Kolleg_innen auf Länderebene ausgesetzt worden wäre, dann würde man sie auch leichter wieder einführen können. Ähnlich übrigens wie Schnelltests, Impfungen und Quarantänebeschränkungen. So unübersichtlich, wie die Lage jetzt ist, glaube ich nicht, dass wir ohne dramatische Entwicklungen zu unserer Disziplin zurückfinden. Das geht zulasten der gesundheitlich Schwachen. Dass es gar nicht um Eigenverantwortung geht, sondern vielmehr um Solidarität, das sind Worte einer Spaßbremse. Also z.B. von mir.

Eine Gelegenheit für Impfgegner_innen, sich gesichtswahrend impfen zu lassen.

Was also ist die Lösung? Sie liegt natürlich auf der Hand: Man muss die Maßnahmen besser verkaufen. Vor allem die Impfung. Zunächst einmal sollte man mit einer einschlägig akzeptierten Firma zusammenarbeiten, vielleicht mit Wala, oder mit den Leuten, die diese Kügelchen herstellen. Die sollten dann einen neuen Impfstoff entwickeln, also eigentlich den alten, aber bio und vegan und komplett in Deutschland produziert. Das ist dann die Alternative zu Biontech und Co, und die kostet dann natürlich auch. Das ist die Gelegenheit für Impfgegner_innen, sich gesichtswahrend impfen zu lassen: Dieser Impfstoff ist immerhin pflanzlich, insofern ist das schon ein Kompromiss, auch wenn es 800€ für die Familie gekostet hat, war ein Angebot, und immerhin besser als diese Schulmedizin! Gut für die Impfquote, gut für die Menschen. Ich sag’s ja nur. Das ist die Lösung. Gern geschehen.

Von Sex und Belästigung und behinderten Menschen

Ein Artikel über sexuelle Belästigung durch behinderte Menschen erinnert mich an ganz unterschiedliche Erlebnisse. Reden wir über Sex, Belästigung und behinderte Menschen!

Russland, Corona und Klimakrise, die Nachrichten türmen sich zur Zeit auf – und trotzdem fand ich letzte Woche auf tagesschau.de diesen Artikel, der mich sofort brennend interessierte. Belästigungen von Pflegekräften durch behinderte Patienten seien kein Einzelfall, würden aber unter dem Deckel gehalten, stand da, und plötzlich fiel mit das Kaffeetrinken des Pastors wieder ein. Das war in den 90ern, ich war 16 oder 17.

Damals war Inklusion noch kein Wort, mit Rechten behinderter Menschen hatte ich mich nie befasst, von geistigen Behinderungen erst recht keine Ahnung. Aber ich war fast erwachsen, der Pastor wohnte in der Nachbarschaft und er brauchte dringend Leute: Einmal im Monat holten Freiwillige die Menschen aus dem Heim für geistig behinderte Menschen ab und unternahmen was (Kaffeetrinken eben), und je weniger Betreuer_innen, desto weniger Teilnehmer_innen, das war klar. Zusammen mit einer Freundin willigte ich also ein, man sagte kurz vorher, dass wir bei den Männern wenn nötig einfach sagen sollten, wir hätten einen Freund – und los ging’s.

Ich war natürlich völlig naiv.

Ich war natürlich völlig naiv. Als ich beim ersten Termin noch länger mit einem der jungen Männer auf seinen Bus warten wusste, wurde ich nicht nur gefragt, ob ich einen Freund hätte, sondern regelrecht bestürmt, diesen zu verlassen. Heute würde ich lachen und eine deutliche Grenze ziehen, damals fühlte ich mich einfach nur massiv unter Druck. Beim nächsten Termin griff mir derselbe Mann mit beiden Händen von hinten an die Brust. Niemand hatte das mitbekommen oder sagte etwas dazu, ich kam auch nicht auf die Idee, um Hilfe zu bitten. Die „nicht behinderten“ Menschen aus der Kirchgemeinde erzählten sich, wie erfüllend der Kontakt zu „den Behinderten“ sei. Wie sollten meine Erfahrungen da reinpassen? Auch hatte ich Angst davor, mich erklären zu müssen, befürchtete, dass das Hauptinteresse von Seiten der Kirchgemeinde womöglich darin liegen könnte, mich als Betreuerin zu halten. Ich wollte aber nicht mehr kommen!

Der junge Mann, der mich so heftig angegrapscht hatte, konnte in dieser Situation keine Verantwortung übernehmen. Der Pastor und die Kirchgemeinde waren nicht präsent. Also blieb alles an mir hängen. Ich schob vor, ich hätte zuviel für die Schule zu tun. Der Pastor fragte noch ein paar Mal nach, aber ich blieb dabei. Damit war die Geschichte vorbei, und bis heute habe ich tatsächlich noch niemandem davon erzählt.

Es macht wirklich Spaß, die Gruppe ist nett, alles ist fein.

Jahre später, Niederlande. Mein damaliger Freund hat mir einen Job vermittelt: er und ich und ein Sozialpädagoge fahren mit einer Gruppe geistig behinderter Menschen segeln. Es macht wirklich Spaß, die Gruppe ist nett, alles ist fein. Und im Prinzip, wie auf jeder Klassenfahrt – immer mal wieder gibt es irgendwelche Aufreger, die man dann klären und nach denen man die Ruhe wiederherstellen muss. Es gibt Pärchen, die schon lange zusammen sind, und es gibt frisch Verliebte. Eine junge Frau mit Down Syndrom bändelt mit einem Mann aus der Gruppe (die Behinderung weiß ich nicht) an, sie haben Spaß. Am letzten Tag, alle packen, gehe ich nochmal durch die Zimmer der Frauen um zu gucken, ob jemand Unterstützung braucht. Quatsch, sagen sie alle, und haben bereits weitaus strukturierter gepackt als ich. Die junge Frau mit dem Down-Syndrom wird von ihren Zimmergenossinnen bestürmt, „was“ zu sagen. Sie sei im Bad gewesen und da sei der junge Mann, mit dem sie sich angefreundet habe einfach reingekommen. Das sei nicht in Ordnung, sage ich ihr, und dass ich es mit dem Gruppenleiter bespräche. Als ich ihn sehe, ist allerdings Stress angesagt: Einer unserer Teilnehmer hat sich abgeseilt. Bis er wieder da ist und alles geklärt ist, ist Schlafenszeit, am nächsten Morgen Aufbruch, und irgendwie vergesse ich, mit ihm zu sprechen.

Wenig später, ich bin schon wieder in Leipzig, ein Anruf: Die Eltern der jungen Frau haben Anzeige gegen den jungen Mann gestellt, der Vorwurf: Vergewaltigung. Mir wird schlecht. Wieso habe ich an dem betreffenden Tag nicht geschaltet? Wir tragen im Team zusammen, was wir beobachtet haben, äußerlich waren die beiden ein Herz und eine Seele, und wenn es einvernehmlichen Sex gegeben haben sollte, dann ginge uns das einfach nichts an. Aber natürlich haben wir sie, die Verantwortung, unsere Teilnehmer_innen vor Übergriffen zu schützen, bzw. Ansprechpartner_innen zu sein.

Letztlich sind geistig behinderte Menschen absolut gefährdet, wenn es um Missbrauch geht.

Was nun wirklich geschehen ist? Wir werden es nie erfahren. Die Polizei hat ermittelt, aber es gab keine stichhaltigen Beweise oder Aussagen. Die junge Frau schien nicht traumatisiert (ein Glück!), und so verlief die Sache im Sande. Letztlich sind geistig behinderte Menschen absolut gefährdet, wenn es um Missbrauch geht, denn ihre Aussagen werden noch stärker angezweifelt, als die anderer Opfergruppen. Das betrifft selbstredend auch den Missbrauch durch nicht behinderte Menschen, das sollte man niemals aus dem Blick verlieren.

Ich jedenfalls habe damals richtig Bockmist gebaut. Es mag dafür gute Gründe geben (keinerlei Ausbildung zum Beispiel), unterm Strich bin ich meiner Verantwortung nicht gerecht geworden.

Jahre vergingen, irgendwann unterrichtete ich Heilerziehungspfleger_innen im Fach Theaterpädagogik und die erzählten mir Geschichten: Von geistig behinderten Menschen, die einsam waren und blieben, von der Frage der Verhütung, und wie Familien damit umgingen, von sexuellen Bedürfnissen, die unerfüllt blieben, und von einigen Pfleger_innen, die in der Spätschicht abends nach 22 Uhr eine Prostituierte anriefen, die regelmäßig ins Heim kam.

Grundsätzlich würde ich immer sagen, dass sexuelle Gewalt, grapschen, bedrängen nichts mit Sex zu tun hat. Eine Menschengruppe aber, die bis in diese intimsten Bereiche hinein reglementiert wird, hat vermutlich nur die Chance, „Gelegenheiten“ zu ergreifen. Das muss furchtbar sein.

Bleibt die Fage: Wer in all diesen Geschichten hat denn wirklich Verantwortung übernommen?

Wieder Jahre später, mein erstes Patenkind wird geboren, es hat Down Syndrom. Schon seine Geburt ist ein Politikum: Über 90% der Kinder mit Down-Syndrom werden abgetrieben. Im Einzelfall würde ich das nicht bewerten, in dieser Masse muss man das meiner Meinung nach bewerten. Einige Jahre später kommt ein zweites Patenkind, ebenfalls schwer behindert. Bei beiden beobachte ich, wie es so läuft mit der Inklusion, mein Interesse an dem Thema wächst. Ich lese Texte von Mareice Kaiser, Ninia LaGrande, Raul Krauthausen. Zum ersten Mal wird mir klar, wie klein wir die Teilnehmer_innen unserer Projekte gemacht haben: Weil wir gar nicht erst versucht haben, Grenzen abzustecken. Weil wir ihnen nicht zugetraut haben, diese zu respektieren. Oder ihre eigenen Grenzen zu benennen. Es gibt sicherlich geistig behinderte Menschen, die all das nicht können. Aber gewiss nicht alle. Wir hätten es wenigstens versuchen müssen.

Meine beiden Patenkinder, das möchte ich am Rande erwähnen, sind beide absolut der Hammer. Aber selbst wenn das nicht so wäre: Sie haben ein Recht darauf, dass man vernünftig mit ihnen kommuniziert. Aktuell vielleicht über Musik und Süßigkeiten. Irgendwann später dann auch über alles andere.

Vier Kinder, ein kranker Mann und die Frage, ob man drüber reden soll. Der Fall Anne Spiegel.

Ich hatte mich bisher nicht mit Anne Spiegel befasst, aber ihre entschuldigenden Worte beschäftigen mich sehr. Eine emotionale Frau die Sorgearbeit leistet, repräsentiert mich doch eigentlich besser, als ein Abgeordneter, der jeden zweiten Abend mit seiner Frau telefoniert?

Ich hatte mich bisher nicht mit Anne Spiegel befasst. Als das Hochwasser im letzten Sommer Menschen tötete und verheerende Schäden anrichtete, war ich schwer krank und bekam wenig davon mit. Dann gab es immer „größere“ Nachrichten: Bundestagswahl. Impfgegner. Ukraine. Der parallel arbeitende Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe zog an mir vorbei. Folglich hatte ich auch keine Meinung zu unserer jetzt Ex-Familienministerin.

Erst nach ihrem Statement, ihrer öffentlichen Entschuldigung am Sonntagabend las ich mich ein – und der ganze Vorgang lässt mich nicht mehr los. Warum?

Ich finde es natürlich nicht gut, wenn Politiker_innen Sachverhalte verschweigen oder sogar lügen. Ich stelle es mir sehr schwer vor, wenn jede SMS öffentlich gemacht werden kann – ich schreibe selber so flapsig, dass ich eine derartige Karierre wohl nie machen könnte. Es gehört aber zum Job, Transparenz auszuhalten – wenn man dann schlecht da steht, hat man das selbst zu verantworten.

Absolut gut, wenn Politiker_innen ein Privatleben haben.

Ich finde es absolut, und das möchte ich betonen, ABSOLUT gut, wenn Politiker_innen ein Privatleben haben. Und damit meine ich nicht Frau und Kinder irgendwo am anderen Ende des Landes. Sondern ein echtes Gestalten dieses Lebens, eine echte Kommunikation und natürlich auch Sorgearbeit. Ich mag ihm Unrecht tun, aber ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Friedrich Merz weiß, in welchem Alter seine Töchter trocken geworden sind, wie ihre besten Kindergartenfreund_innen hießen und welches Pausenbrot sie immer vergammeln ließen. Und da sind familiäre Krisen, Krankheiten, Streit noch gar nicht mit eingeschlossen.

Anne Spiegel hat all das offen gelegt, spät, aber wer würde das schon tun, so lange er_sie nicht mit dem Rücken zur Wand steht. Sie hat genau das getan, wovon Frauen im Berufsleben immer abzuraten ist: Sie hat emotional, sichtlich unsicher über Schwierigkeiten in ihrem Privatleben gesprochen. Die (männliche) Presse ist damit überfordert. Sie habe „privateste Dinge“ erzählt (Bullshit, ich habe weder von einer Ehekrise noch von einnässenden Kindern oder Haarausfall gehört). Kanzler Scholz müsse schon aus Fürsorgepflicht für ihren Rücktritt sorgen (Anne Spiegel ist eine erwachsene Frau). Sie sei sehr schlecht beraten worden – ja, Angela Merkel hat sich vermutlich an den Kopf gefasst, aber soll es wirklich ein Tabu bleiben, Gefühle zu zeigen, über Mutterschaft und Familie zu sprechen? Die schlechteste Idee in der ganzen Geschichte war aus meiner Sicht, nicht sofort im letzten Sommer mit der ganzen Wahrheit rauszurücken – aber wie sehr wäre sie auch dann von der Öffentlichkeit zerrupft worden? Es ist leider eine Tatsache, dass ein emotionaler und persönlicher Auftritt der eigene Schwächen thematisiert, zumal von einer einigermaßen jungen Frau, dieser nicht zum Vorteil gereicht. Und um mal schön emotional zu bleiben: Das macht mich unheimlich wütend. Denn in einer politischen Landschaft, die so funktioniert, fühle ich mich nicht repräsentiert.

In einer politischen Landschaft, die so funktioniert, fühle ich mich nicht repräsentiert.

Genau wie Anne Spiegel bin ich Mutter. Ähnlich wie ihr Mann bin ich krank und muss Stress vermeiden. Daher kann ich aktuell nicht arbeiten. Meine Erkrankung ist hochemotional: Depression. Eine Volkskrankheit, übrigens eine, die vermehrt Frauen trifft. Ich bin nicht dumm, ich bin gut ausgebildet, aber in einem Politikbetrieb, der so wie oben beschrieben funktioniert, kann ich nicht arbeiten, also auch nicht meine Interessen vertreten. Kein Problem, dafür gibt es ja die repräsentative Demokratie. Nur: Kann mich eigentlich jemand vertreten, der nicht über Lebenskrisen sprechen darf, der sich dem Leistungsgedanken komplett unterwirft, der kaum Sorgearbeit leistet und mit zwei festgetackerten Grübchen durch den Tag trabt? Ernsthaft?

Wo sind sie, die depressiven Abgeordneten? (Die gibt`s mit Sicherheit!) Die alleinerziehenden Minister_innen? Die pflegenden Angehörigen?

Eine kleine Anregung für den_die nächste Familienminister_in: Richten Sie doch bitte mal einen Arbeitskreis (oder so) ein, in dem geprüft wird, wie man potentiellen Kolleg_innen, die Sorgearbeit für sich oder andere leisten, schwer krank, oder sonstwie benachteiligt sind, unterstützen könnte, um in Bundestag und Regierung mitzuarbeiten. Einfach mal konstruktiv an das Thema herangehen. Fänd ich klasse.

Für Anne Spiegel kommt das freilich zu spät. Kein Maskendeal, keine Fake-Firma in den USA, keine Parteispendenaffäre – einfach nur eine mangelhafte Kommunikation und der gute alte Sexismus haben gereicht. Vier Kinder, ein kranker Mann und die Frage, ob man drüber reden soll. Meine Bitte: Redet drüber, alle. Denn was sollen wir sonst tun.

Randnotizen VI

Endlich mal wieder Randnotizen! Es hat eine ganze Weile gedauert, aber nun gibt es wieder Geschichtenschnipsel aus meinem Leben – von geilem Gebäck bis zum Chrystal Meth-Lieferservice. Viel Spaß damit!

„Geil. Geil. Geil, geil.“ Ich laufe durchs Reudnitzcenter, die Stimme hinter mir lässt mich spontan an Stadtrandnazis denken. Vorsichtig drehe ich mich um, zwei Schränke in Jogging-Hosen, tätowiert bis ans Kinn, laufen hinter mir. „Geil, geil, geil. Weißt du was auch geil ist? Eierschecke!“ „Ja, geil. Richtig geil.“

„Findest du das lustig?“ Mein Sohn sitzt mit seiner Cousine zusammen im Bollerwagen. Sie deutet auf ein Einfamilienhaus, er mustert es prüfend. „Ja.“, antwortet er entschlossen. Ein oder zwei Sekunden vergehen. Dann lachen beide herzlich. Ich check’s nicht.

Dielheim, Baden-Württemberg. Dunkle Straße, helle Lichterketten, Einfamilienhäuser. Ein Mann mit Rollator und eine zweite Person mit Krûcken gehen langsam die Straße entlang. Ich steige aus dem Auto aus, die beiden starren mich an. Guten Abend, sage ich, guuuuten Aaaabend?!, antworten die beiden prüfend. Ich gehe ein paar Schritte und drehe mich um, sie starren noch immer. Noch ein paar Schritte, immernoch, sie gehen ganz langsam weiter und starren mich an, bis ich hinterm Haus verschwunden bin. Invalidenzombies, es gibt sie. In Baden-Württemberg.

Advent, das Wohnzimmer glitzert, ich sitze schmückmüde auf dem Sofa. Es klingelt an der Tür. Eine Stimme mit starkem osteuropäischen Akzent meldet sich freundlich: „Wollen Sie Chrystal Meth kaufen?“ -“ Was?!“ -“ Wollen Sie Chrystal Meth kaufen? Ist sehr billig!“ -“ Achso, äh…“, ich überlege, „… tut mir leid, aber mein Sohn ist noch zu jung dafür!“ Wir lachen beide.

Wann kommt die Impfpflicht?

Ich liege im Bett, Corona-frei erkältet, und scrolle durch die Berichterstattung zu Covid 19. Ich hatte ein bisschen den Anschluss verloren, dieses Virus bestimmt inzwischen schon so lange unseren Alltag, dass mich das Gefühl beschlichen hatte, es sei schon alles gesagt.


Im Prinzip stimmt das auch, nur: Wir fangen gerade einfach wieder von vorne an. Die Inzidenzen sind riesig, gerade hier in Sachsen, die Ansteckungsgefahr damit vor allem aber nicht nur für Ungeimpfte größer denn je, die Intensivstationen sind heillos überlastet. Und: Über jede Pups-Maßnahme, die diese Lage verbessern könnte, wird diskutiert, als solle flächendeckend Strychnin ins Trinkwasser eingespeist werden. Wir argumentieren ähnlich wie mein fünfjähriger Sohn im Angesicht der Zahnbürste, aber genauso dringend wie das Zähneputzen ist eben auch: die höhere Impfquote. Die Alternative (für Deutschland) lautet Durchseuchung, und das bedeutet faktisch, schwächere Menschen sterben zu lassen, damit wir uns nicht impfen lassen müssen. Kinder und Kranke. Ernsthaft?

Kinder und Kranke. Ernsthaft?

Das böse Wort in dieser Debatte lautet „Impfpflicht“, und natürlich ist das auch nicht schön: Der Staat greift in die körperliche Unversehrtheit der Bürger_innen ein. Absolut problematisch.
Allerdings tut der Staat das sowieso – auch wenn er keine Impfpflicht einführt. Etwa wenn Eltern durch die Schulpflicht gezwungen sind, ihre ungeimpften Kinder zur Schule zu schicken. Oder wenn ein_e Herzpatient_in stirbt, weil die Notaufnahme wegen Covid 19 überfüllt ist und ein weiter entferntes Krankenhaus angefahren werden muss. Oder auch ganz einfach, wenn wir alle, ob geimpft oder ungeimpft (die Impfung schützt nur vor schweren Verläufen) bei jedem verdammten Einkauf Angst vor der Ansteckung haben müssen.

Oder auch nicht, denn hat man von diesem Zustand längst die Nase voll und will einfach leben. Demo, Clubbing, Kölle Alaaf. Ich kann`s verstehen. Aber die Quittung kriegen wir dann auch wieder alle.


Jede potentielle Wähler_innenstimme von einem_r Querdenker_in scheint genauso viel wert zu sein, wie die von 10 Impfbefürworter_innen. Dabei wird man diese Menschen sowieso nicht erreichen. Ob Geflüchtete, Umweltschutz oder eben Covid-19, es gibt in Deutschland eine Szene, die sich auf die großen Themen draufsetzt und sie für sich nutzt. Und je mehr Raum man ihnen gibt, desto mehr Menschen verunsichern sie. Das ist hier passiert.

Ich will die Impfpflicht. Für alle.

Und deshalb bin ich da jetzt auch komplett undiplomatisch.
Ich will die Impfpflicht. Für alle.
Ich will, dass alle Bürger_innen ihren Impftermin unaufgefordert vom Gesundheitsamt bekommen, und wer den nicht einhält, muss entweder ein Attest des_der Amtsarzts_ärztin einreichen, oder bis zur Bewältigung des Infektionsgeschehens zu Hause bleiben.
Ich will, dass das kontrolliert wird.
Und ich will zusätzlich Vernunft im alltäglichen Zusammenleben: Keine Großveranstaltungen bei den aktuellen Inzidenzen.
Ist das nicht einfach gesunder Menschenverstand?
Oder bin ich da komplett verblendet?
Grüße vom Erkältungslager.

Ich fühl’s nicht. Der Wahlkampf auf Instagram.

Aus einer eigenartigen Faszination heraus folge ich schon lange Philipp Amthor auf Instagram. Es ist langweilig (Texte) bis verstörend (Bilder). Vor der Wahl habe ich mein Interesse auf Spitzenpolitiker_innen aller großen Parteien ausgedehnt.

Ich fühl’s nicht. Die Bundestagswahl 2021 steht unmittelbar bevor, und anstatt Argumente vorgetragen zu bekommen, gucke ich mir bei einem blauhaarigen YouTuber an, welche Politiker_innen besonders korrupt sind. Das sind Inhalte, die besprochen werden müssen. Und im Gegensatz zu den Kolleg_innen im Bundestag hat er verstanden, wie social media funktioniert. Literally.

Da wäre zum Beispiel die CDU. Das Strickmuster von Amthor geht so: Gestern war ich in/an/auf ___________. Gute Gespräche und spannende Diskussionen mit __________. Danke _______ für die Organisation dieser Veranstaltung! Gemeinsam konnten wir zeigen: Kluge Sachpolitik statt linker Experimente! Plus Bild von Amthor in Anzug und mit einem Karpfen. Oder so. Wahrscheinlich hat er sich diesen Lückentext auf den Unterarm tätowiert, er nutzt ihn jedenfalls ausgiebig. Noch nie dürfte ich lesen, was diese klare Sachpolitik für Ziele verfolgt, worin sie besteht… Nix. Also mal lieber bei Armin Laschet vorbeischauen.

Da läuft der Laden nämlich.

Nordrhein-Westfalen. Armin Laschet postet gern zu Nordrhein-Westfalen. Da läuft der Laden nämlich. Ansonsten sieht man viele Bilder mit einem freundlichen Gesicht (ja, ich meine schon seins). Je näher die Wahl rückt, desto größer ist natürlich schon der Druck, insofern verirren sich inzwischen auch Zeilen aus dem Parteiprogramm in die Texte. Was diese mit seiner Person zu tun haben, was ihm besonders wichtig ist, wie er persönlich Politik gestalten will? Ich fühl’s nicht und ich lese es auch nicht.

Als Sahnehäubchen dann noch Friedrich Merz dabei zuzusehen, wie er durch das Sauerland marschiert (spaziert kann ich da einfach nicht sagen) gibt der Sache dann den Rest: Merz würde alles tun, damit ihm die CDU wieder gehört, und wenn er für dieses Instagram raus in die Natur muss, dann bitte. Er geht mit der Zeit. Und die Zeit geht ihm bitte aus dem Weg.

Und wie sieht’s bei den Freund_innen der CDU aus, was macht die FDP? Christian Lindner postet fleißig, bringt auch ein paar Inhalte unter und zählt gerne die anstehenden Wahlkampf-Termine aus. Alles ganz ordentlich gemacht. Ich fühl’s trotzdem wieder nicht, und der Grund ist banal: Ich bin eine arbeitsunfähige Künstlerin, die auf die 40 zugeht und kein Wohneigentum hat. Mich gibt es bei der FDP nicht. Wir haben uns nichts zu sagen. Ich werde „es“ nicht aus eigener Kraft schaffen. Wohlwollend nehme ich noch zur Kenntnis, dass Lindner sich einen Bart hat stehen lassen, so dass man die aktuellen Bilder von denen der letzten Wahl unterscheiden kann. Und damit bin ich raus.

Ich muss hässlich lachen.

Wenden wir uns den linken Parteien zu, denke ich, muss hässlich lachen und suche nach Olaf Scholz. Der megalinke Shootingstar der Umfragen. Natürlich auch auf Insta. Allein… Er postet nichts! Alle paar Jahre mal ein blasser Text, keine Stories, die SPD ernährt sich von alten Leuten, und die sind nicht in den sozialen Netzwerken unterwegs. Und außerdem klappt es so prima, sich einfach hinter Laschet zu verstecken während dieser vor sich hinonkelt, dass man da noch nicht früher drauf gekommen ist… Jedenfalls: Keine Ahnung, wofür Olaf Scholz inhaltlich steht, ich weiß nur Cum-Ex und Wirecard. Obwohl er dazu auch nichts schreibt. Aber das kommt irgendwie in jedem Text vor, den ich über ihn lese. Danke, liebe informierte Texteschreiber_innen!

Die CDU wird natürlich nicht müde zu beschwören, dass es nach der Wahl ein rot-rotes Bündnis geben würde, und dass damit Stalin kurz vor Berlin stehen würde, praktisch. Das ist natürlich möglich, aus dem Instagram-Auftritt von Janine Wissler geht das eigentlich aber nicht hervor. Hier findet man fundierte Überschriften zu Texten, die es nicht gibt, Auflistungen von Tourdaten und Fotos von Plakaten in Bildzeitungsoptik. Keine Ahnung, welchen Bezug die Kandidatin zu ihren Themen hat. Keine Ahnung, was sie auf Instagram überhaupt will. Auch hier gilt wieder: Ich fühl’s nicht.

Da steckt viel Arbeit drin.

Gibt es denn auch ein Positivbeispiel? Na klar, ich habe es mir bis zum Schluss aufgehoben: Annalena Baerbock und Robert Habeck. Jeden Tag posten sie beide einen längeren Text, in dem sie erst auf die Orte eingehen, die sie besucht haben, von dort zu einem Thema kommen, ihren Bezug dazu erklären und dann auf die betreffenden Pläne ihres Programms eingehen. Da steckt viel Arbeit drin, soviel Arbeit macht sich keine andere Partei. Vermutlich verschrecken die langen Texte bildungsferne Wähler_innen, grundsätzlich sind sie aber einfach und klar formuliert. Von den Grünen weiß ich ziemlich genau was sie wie machen wollen. Isso.

Insgesamt aber war der Wahlkampf auf Instagram beleidigend langweilig. Und so hoffe ich einmal mehr, dass die Zeit der Trielle und großen Reden schnell vorbeigeht. Wen ich wähle? Normalerweise erzähle ich das nicht. Aber dieses Mal ist es einfach:

Ich habe einen kleinen Sohn. Ich will nicht, dass er gegrillt wird. Deshalb wähle ich die Partei mit dem besten Klimaschutzkonzept. Und das sind objektiv die Grünen. Ob mit Instagram oder ohne.

Bitte wählt die auch. Das fühle ich. Danke.

PS: Falls irgendein Schlaumeier anmerken möchte, dass ich die AfD vergessen habe: Ja. Das war auch so gemeint. Danke.

PPS: Und die CSU? Ich folge Andi Scheuer. Textende.