Ein Staat – Erkenntnisse aus dem Bienenland

Eine intensive Woche ist vorbei. Wie immer, wenn mir ein Projekt besonders am Herzen liegt, habe ich mich übernommen und bin krank: Diesen Artikel tippe ich mit Sehnenscheidenentzündung und deshalb mit links.

Trotz Stress und Reibungsverlusten haben wir aber Ergebnisse, die ich fast in einen Umschlag    stecken und nach Berlin schicken möchte. Denn wenn man nur wenige gemeinsame Worte und keine gemeinsame Sprache hat, dann heißt es Farbe bekennen: Ja oder nein? Gut oder nicht gut? Chef oder nicht Chef? Eine soziale Anstrengung, aber auch eine künstlerische Chance.
Einige Momentaufnahmen:

Tag 1

Solveig: Das hier ist ja ein Land…

5 Kinder: Wer  Chef?

Die Chefposition wird uns die ganze Woche lang beschäftigen. Schnell wird klar, dass diese mächtige Position nicht  so mächtig ist, wie die pädagogische Diktatur, die im Hintergrund die Wahl leitet, anregt, dass die Chefs bestimmte Aufgaben erfüllen etc. Könnten wir das anders machen? Uns ist daran gelegen, das Zusammenleben in unserem Staat, unser ganzes Experiment, erträglich zu gestalten. Wir greifen alles auf, was von den Kindern kommt, aber wir geben eben auch Input: Die Chefs (es sind täglich 2, immer frisch gewählt) werden so schnell für Entscheidungen zuständig, die alle betreffen, werden bei Streitigkeiten gerufen und erhalten natürlich auch viel Aufmerksamkeit.

Fast alle wollen Chef werden.

Tag 2: Das System funktioniert. Erster Unmut entsteht allerdings durch die mangelnde Gewaltenteilung: Wenn die Chefs auch Kochen, haben sie zuviel Macht.

Tag 3: Die ersten Petitionen tauchen auf. Lustigerweise oft erstellt von den Chefs. Dabei wird schnell deutlich, dass es nicht für alles, was ein Chef will, auch Mehrheiten gibt. Überhaupt hängt die Macht der Chefs stark von der Gunst der Bienengesellschaft ab.

Kinder, die große Sprachprobleme haben, haben zudem keine echte Chance, zum Chef gewählt zu werden: Verständlich, aber auch frustrierend. Die einzige Position, die ohne Sprache erfüllbar scheint, ist die eines Polizeichefs: Die Rolle wird so interpretiert, einzelne Bereiche durch auf und abgehen zu kontrollieren. Polizei spielen um mit einbezogen zu werden? Die Erwachsenen müssen lachen. Und doch ist das ein interessanter Blick auf diese Position, immerhin von einem Kind, das hierher geflüchtet ist, und mit der Polizei vermutlich einige Erfahrungen hat.

Tag 4: Die Chefs machen nichts. Dinge gehen kaputt. Krisensitzung! Alle fühlen, dass es so nicht weitergehen kann.

Erkenntnis 1: Wir brauchen Chefs, die auf Streit spezialisiert sind!

Die wichtigste Position im Bienenland ist eine Schlichtungsposition. Kein Durchsetzen, kein Bestimmen: Wir brauchen jemanden, der wirkungsvoll schlichten kann. Das geht weit über ein juristisches Entscheiden hinaus, SchlichterInnen kümmern sich um den sozialen Frieden. Ich sehe keine derartige Position auf Bundesebene, die derart Rückhalt hätte, wie unsere Streitchefs. Ein Verbesserungsvorschlag.

Tag 5: Wahl der neuen Chefs. Mit einem ganz klaren neuen Ansatz: Jeder möchte Chef sein und eine Verantwortung übernehmen, die ihm oder ihr auch etwas wert ist. Wir können die Kinder nicht mehr mit symbolischen Positionen abspeisen. Heute bestimmen wir gemeinsam in einem nicht mehr nachvollziehbaren Prozess, mit dem aber alle zufrieden waren: Chefs Streit: deutsch und arabisch-sprachig; Sportchefs: für Ball und Boxsack; Chef Feuer (zusammen mit Solveig); Chefs Kekse und Einkauf von Keksen; Chef Wii; Hausmeister; Küchenchef; Farbenchef

Erkenntnis 2: Alle Bürger fordern lautstark ihre Verantwortung ein. Jede und jeder will ein Amt!

Hier gibt es keine Politikverdrossenheit, aber großen Ärger, wenn jemand bei der Ämterverteilung zu kurz kommt. Lässt sich das auf bestimmte Bevölkerungsschichten in Bundesdeutschland übertragen?

Jedenfalls werde ich nie mehr leichtfertig Verantwortlichkeiten einschränken.

Tag 6: Präsentation. Eine Party, ein Chaos, ein ekstatisches Schwenken der Bienenfahne. Es gäbe noch viel viel mehr zu erzählen. Wir hoffen auf die Anschlussförderung, denn die neue Chefregelung hat sich ja nun erst einen Tag bewähren müssen.

Was vorerst bleibt: Wir haben einen Staat gegründet, in dem heftig gestritten und laut gefeiert wurde. Die Sprachschwierigkeiten waren für alle aufreibend, kulturelle Unterschiede natürlich auch. Es hat aber funktioniert. Mit wenigen Gesetzen, viel Gerangel um Positionen – und schließlich auch mit einem florierenden Postwesen, einer derben Inflation, bevor das Geld wieder abgeschafft wurde und Pässen, die  sich interessierte Bürger einfach selber herstellen konnten.

In diesem Sinne: Wenn ihr einreisen wollt, dann macht euch einen Pass und werdet Bürger.

Das Bienenland ist ganz sicher nicht der schlechteste Ort. Zum Leben und zum Summen.

Wo die wilden Bienen wohnen. Staatengründung mit Kindern

Nächste Woche tauche ich ab. Eine Woche lang werde ich schwer zu erreichen sein, mich nicht im Büro aufhalten, selten meine Mails checken und noch seltener ans Telefon gehen.

Ich werde einen Staat gründen!

Mit meiner Kollegin Katharina Wessel und einer Gruppe von Kindern aus Deutschland, Syrien, Libyen, Serbien, Albanien und, und, und arbeite ich in den Räumlichkeiten von „Hildes Erben“ im Leipziger Osten. Ziel: Wir gründen unseren eigenen Staat.

Und das meinen wir sehr ernst. Ich persönlich wundere mich schon sehr, wie erwachsene Sachsen gegen jede vernünftige Integration Fremder Sturm laufen – worin auch immer die Fremdheit besteht. Weit davon entfernt, Kinder als ideal-friedliche Überwesen wahrzunehmen, beobachte ich doch, dass sie die einzigen sind, die sich im Freistaat nicht drücken können. Vor der, Achtung, jetzt wird’s schwerwiegend, Integration.

Ja, es knallt, wenn 10-20 Kinder mit 4-5 Sprachen, jeder Menge Stereotypen, Traumata und Playstationwünsche um mich herumturnen. Tatsache ist aber, dass diese Kinder keine Wahl haben: Sie müssen sich arrangieren. Und meistens klappt das dann auch.

Deshalb denke ich, dass sie qualifiziert sind, einen Staat zu gründen. Künstlerisch spannend, denn sie bringen extrem unterschiedliche Erfahrungen mit Staaten mit: Von der Flucht übers Mittelmeer bis zum Streit um die Schulempfehlung bei LRS. Auch verschiedene ästhetische Vorstellungen: Der Raum muss limegrün gestrichen sein, aber irgendwie auch gold glitzern. Und verschiedene Geschlechterrollen: Fast alle Jungs wünschen sich eine PS4, bei den Mädchen zündete bisher vor allem die Idee eines Boxsacks. Wir werden sehen.

Ich bin sehr gespannt, was wir nächste Woche herausfinden werden. Werde ich Königin des Staates bleiben? (Es hat sich schon ein Untergrund formiert, die Monarchie erschien mir halt einfach pädagogisch so praktisch…) Werden wir Pässe haben, und wie sehen die aus? Schotten wir uns ab, oder lassen wir Neue rein?

Wer das verfolgen und am 21.2. evtl. eine Führung mitmachen will, der sei herzlich eingeladen. Alle Infos hier und auf facebook. Bis bald!

 

„Wo die wilden Bienen wohnen“ – Projekt im Programm „tanz+theater machen stark“ vom Bundesverband freier Theater. Kooperationspartner: Förderverein der Kinder- und Jugendkulturwerkstatt JOJO, 16. Oberschule Leipzig, Humboldtgymnasium Leipzig, Quartiersmanagement Leipziger Osten